Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
Straßen, durch die sie gingen, begannen, ihm bekannt vorzukommen. Er nahm an, dass das Gasthaus nicht mehr weit entfernt war.
„Sag mal“, sprach er seinen Bruder an, „irre ich mich oder liegt die Fleischerei von Antons Vater in der Nähe unseres Hauses?“
„Das nehme ich auch an“, antwortete Tom vergnügt. „Und ich glaube sogar noch etwas: ich kann mir vorstellen, dass es unser Haus war, in dem Anna und ihr Mann mit dem alten Wilhelm damals gewohnt haben!“
„Wirklich?“ Finn blieb abrupt stehen. „Wieso das denn?“
„Ich hatte dir doch erzählt, dass wir Nachbarn haben. Nun, diese Nachbarn, das ist die Kirche St. Pankraz; sie liegt ein paar hundert Meter hinter unserem Garten. Es ist eine sehr kleine Kirche, und es kommt dort auch kaum noch jemand hin. Vor fünf Jahren, glaube ich, ist die neue, große Kirche in der Innenstadt fertig gestellt worden. Dort finden jetzt immer die Gottesdienste statt. Für die wenigen Menschen, die noch in unserem Stadtteil wohnen, lohnt sich eine eigene Kirche wohl nicht mehr. Es wundert mich, dass St. Servatius noch einen eigenen Pfarrer hat. Aber ich nehme an, dass man auch die Gläubigen dort bald in die große Kirche schicken wird. Es sind zwar fünf Kilometer Weg, aber wenn man mit der Straßenbahn fährt, geht es ja ganz schnell.“
„Bist du schon oft mit der Straßenbahn gefahren?“, wollte Finn wissen.
„So teuer ist es nicht“, sagte Finn spitzbübisch, „aber ich bin auch schon kostenlos gefahren. Wenn es sehr voll ist und man stellt sich hinten auf die Plattform, kommt der Fahrkartenverkäufer gar nicht bis zu einem, und man kann schnell abspringen, wenn die Straßenbahn an der nächsten Station hält.“
„Und was passiert, wenn sie einen erwischen?“
„Mich haben sie noch nie erwischt. Ich glaube, sie bringen einen zu den Eltern.“
„Oh, das gefällt mir“, stellte Finn leicht genervt fest. „Lass uns ohne zu bezahlen mit der Straßenbahn fahren. Dann werden die Straßenbahnleute unsere Eltern suchen und wir sparen uns den ganzen Ärger mit Steinen und Schmidts und dämlichen Gedichten und so!“
Tom lachte. „Hast du den Mut verloren?“, fragte er.
„Ich kann mich im Moment gar nicht erinnern, ob ich jemals Mut hatte“, antwortete Finn. „Aber da vorne ist schon die Straße mit dem Gasthof.“
Wie zuvor streckten die Jungen zuerst vorsichtig ihre Köpfe um die Straßenecke, stellten aber schnell fest, dass die Schmidts nicht da zu sein schienen. Das große Auto jedenfalls stand nicht vor der Tür.
„Und was tun wir jetzt?“, wollte Finn wissen.
„Wir könnten zumindest versuchen, zu erfahren, ob die Schmidts überhaupt noch hier wohnen“, antwortete Tom. „Wer weiß, vielleicht sind sie jetzt, wo sie den Stein haben, einfach abgereist.“
„Aber wenn einer von uns sich in das Gasthaus wagt, erwischt uns der dicke Wirt“, wandte Finn ein.
„Wenn die Schmidts abgereist sind, hat er ja keinen Grund mehr, uns zu jagen“, antwortete Tom. „Ich gehe einfach fragen. Wenn ich plötzlich weg renne, dann weißt du, dass die Schmidts noch da wohnen!“
Mit gemischten Gefühlen sah Finn seinem Bruder hinterher. Tom schien im Moment so viel mehr Hoffnung zu haben, so viel mehr Mut zu besitzen. Obwohl sie sich so ähnlich sahen, waren sie doch ganz unterschiedliche Menschen. Finn hätte um nichts in der Welt das Gasthaus betreten mögen, aber sein Bruder marschierte hinein, als sei das alles kein Problem – und das, nachdem der Wirt ihn letztes Mal beinahe erwischt hätte.
Finn seufzte. Langsam schlich er sich näher zur Tür. Tom war nun schon einige Minuten in dem Gebäude. Entweder, er hatte recht gehabt und die Schmidts wohnten gar nicht mehr dort, so dass der Wirt das Interesse an ihm verloren hatte, oder aber, der Wirt hatte ihn gleich erwischt. Bei dem Gedanken wurde es Finn ein wenig unwohl zumute.
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Wirtshauses und Tom trat heraus.
„Vielen Dank!“, rief er über die Schulter zurück in die Wirtsstube, bevor er die Tür hinter sich schloss. Als er Finn sah, zwinkerte er ihm verschwörerisch zu.
„Komm erst mal hier weg“, sagte er. Sie gingen eine Weile wortlos nebeneinander her. Finn wagte kaum zu fragen, und aus Toms Gesicht ließ sich auch nichts lesen, noch nicht einmal für ihn, dem dieses Gesicht doch eigentlich vertraut sein sollte.
„Was ist denn nun los?“, platzte er schließlich in Toms Gedanken.
„Oh, entschuldige“, sagte Tom. „Also, die
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