Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
gelangen, hätten sie die ganze Kapelle durchqueren müssen, die zwar nicht sehr groß war, dafür aber auch keinerlei Versteckmöglichkeiten bot.
„Ich hab eine Idee“, murmelte Finn leise. Wie gut, dass er sich hier auskannte! Lautlos schlich er an der Mauer entlang und zum Innenhof, dann um eine Ecke. Hier, hinter einer der Außenmauern der Kapelle, gab es einen großen Haufen Schutt und Steine, der mit der Zeit ebenso wie der Boden im Saal von Gras und Unkraut überwuchert worden war. Finn winkte seinen Brüdern und kletterte langsam auf den Berg. Er hatte diesen Weg schon früher benutzt, um heimlich in die Kapelle zu kommen, nur dass er dieses Mal doch lieber vermeiden wollte, über die alte Steinmauer zu klettern und mit lautem Geschrei auf sich aufmerksam zu machen. Stattdessen hockte er jetzt ungefähr drei Meter über der Öffnung um Boden. Und konnte hervorragend belauschen, worüber die Menschen dort drinnen sprachen.
Finn, Tom und Jacob sahen sich mit entsetzten Gesichtern an. Schließlich öffnete Tom den Mund, um etwas zu sagen. Sofort hielt Finn sich den Finger vor die Lippen und winkte den anderen beiden, ihm zu folgen. Schnell und leise begannen die Jungen, den Hügel hinunter zu klettern. Dann wandte sich Finn in Richtung des Dorfes und begann zu laufen. Seine Brüder folgten ihm. Nicht einmal Jacob beschwerte sich, dass ihm seine Füße weh täten.
Als sie beim Marktplatz ankamen, begann ein schmaler Streifen Himmel im Osten bereits hell zu werden. Bald würde die Sonne aufgehen und ein neuer Tag anfangen. Nur, dass nichts mehr so war, wie es vorher gewesen war.
Plötzlich verließ Finn jede Energie. Ermattet ließ er sich auf die Eingangsstufen des kleinen Kirchleins St. Bonifaz sinken. Tom und Finn ließen sich neben ihm nieder. Eine ganze Weile sprach keiner von ihnen. Tom hatte das Gesicht in den Ärmeln seiner Jacke vergraben und rührte sich nicht. Jacob hatte die Augen geschlossen und lehnte an der Kirchenstür. Er war leichenblass. Finn spürte heiße Tränen in seinen Augen. Er versuchte sie zu unterdrücken, konnte aber nicht verhindern, dass eine von ihnen über seine Wangen rollte.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus und brach das Schweigen.
„Wir sind also keine Brüder“, sagte er tonlos. Tom hob sein Gesicht von den Armen und sah ihn unglücklich an.
„Nein“, sagte er leise. „Wir sind ein und dieselbe Person.“
Bei diesen Worten riss Jacob die Augen auf. „Oh nein“, sagte er wütend, „das sind wir nicht!“
„Aber Jacob“, sagte Finn, „du hast doch gehört, was diese Schmidts gesagt haben!“
„Das war also tatsächlich dieses Ehepaar, das dich adoptieren wollte?“, fragte Jacob. Langsam bekam er wieder Farbe im Gesicht. „Was für furchtbare Leute“, sagte er. „Du kannst froh sein, dass du die nicht als Eltern bekommen hast!“
Tom nickte. „Wie sie darüber gesprochen haben, dass sie dich unbedingt erwischen müssen und dass sie dann fort gehen und dich hierlassen werden, also, das war schon schlimm“, bestätigte er.
„Ich wusste das doch“, sagte Finn traurig.
„Ja, aber ich hatte es noch nicht von ihnen selber gehört“, sagte Jacob grimmig. „Und du bist mein Bruder, und wer so etwas mit meinem Bruder macht, der ist mein Feind!“
Diese Worte klangen so theatralisch, dass Finn ein wenig lächeln musste. Dann aber wurde er wieder ernst. „Das Problem ist nur“, sagte er, „dass wir eben keine Brüder sind!“
Jacob runzelte die Stirn. „Ich habe gehört, was die gesagt haben“, erklärte er wütend. „Gut, anscheinend gab es ursprünglich nur einen von uns. Und dann ist irgendwas schief gelaufen mit diesem Kristall, und wir, die wir damit reisen sollten, sind nicht dort angekommen, wo wir sollten, und der Kristall ist zerbrochen. Richtig?“
„Ich glaube“, sagte Tom, „wenn ich das richtig verstanden habe, sollte ein Kind mit dem Kristall reisen, warum auch immer, und dann ist der Kristall in drei Teile zerbrochen und wir – wir haben uns in drei Kinder… ähm… zerteilt oder so.“
„Ja“, sagte Jacob und sah Finn ernst an. „Irgendwann einmal waren wir anscheinend ein Junge. Aber inzwischen sind wir drei Kinder, drei völlig unterschiedliche Kinder. Wir sind anders aufgewachsen, wir kennen und lieben andere Menschen. Wir haben ganz unterschiedliche Dinge gelernt – und andere Dinge nicht gelernt. Tom zum Beispiel… entschuldige“ – er nickte zu Tom hinüber – „kann nicht lesen und ich bin eine
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