Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
habe
der Stein gibt mir Geleit
Das Kreuz mir seine Gabe.
Kein Zweifel lässt mich wanken
Kein Arg wird mir zuviel.
Ich richte all mein Denken
Auf dieses eine Ziel.
Der alte Wilhelm, der auf dem Weg von seiner Arbeit als Nachtwächter nach Hause gewesen war, nahm die Mütze vom Kopf und kratzte sich nachdenklich das schüttere graue Haar. Er war sich sicher, noch vor wenigen Sekunden drei Jungen auf der untersten Treppenstufe von St. Bonifaz gesehen zu haben. Und nun waren sie fort, einfach verschwunden. Wilhelm schüttelte betrübt den Kopf. Hatte er vielleicht tatsächlich einen Schluck zuviel aus seiner Flasche genommen? Jetzt sah er sogar schon Kinder, die gar nicht da waren!
Leise vor sich hingrummelnd schlurfte er an den Stufen des Kirchleins vorbei und nach Hause.
Zweiter Teil
Auf den Kirchenstufen des kleinen Kirchleins St. Bonifaz saßen drei Jungen, vielleicht zehn Jahre alt. Das war nicht ungewöhnlich. Was den alten Mann, der gerade über den Marktplatz ging, genauer hinsehen ließ, war etwas anderes. Die Kinder trugen ziemlich eigenartige Kleidung. Nicht Jeans und T-Shirt, wie es im Jahr 2005 die meisten Kinder zu tragen pflegten, sondern kurze Stoffhosen, Jacken, die eher wie Anzugjacken als wie Kinderjacken aussahen und dazu feste Lederschuhe statt der bei Kindern viel beliebteren Turnschuhe – kurz, sie sahen aus, wie Kinder aus einer anderen, längst vergangenen Zeit. Aber da gab es noch etwas, das den Mann genauer hinsehen ließ – eigentlich sogar zwei Dinge. Es war schon ziemlich seltsam, dass Kinder morgens um sechs Uhr draußen unterwegs waren statt in ihren Betten zu liegen, noch erstaunlicher aber war, dass diese Kinder sich wie ein Ei dem anderen glichen. Alle drei hatten rotblondes Haar, große, blaue Augen und waren von gleicher Größe und gleicher Statur. Drillinge, ganz offensichtlich. Die drei schienen über irgendetwas zu diskutieren. Offenbar war man sich, auch wenn man sich noch so ähnlich sah, nicht unbedingt immer über alles einig.
Der alte Mann schmunzelte und beschloss, sich die Sache näher anzusehen.
Er war schon beinahe bei den Kindern angelangt, als diese ihn endlich bemerkten.
„Himmel“, rief der eine der Jungen, „ich dachte, Sie wären der alte Wilhelm!“
„Nein, tut mir leid, damit kann ich nicht dienen“, erwiderte der Mann und lächelte freundlich. „Alt bin ich wohl, aber mein Name ist Richard. Dann bin ich wohl der alte Richard!“
Der Junge, der gesprochen hatte, musste lachen.
„Mein Name ist Finn“, stellte er sich höflich vor, „und das hier sind meine Brüder Tom und Jacob.“
„Guten Tag“, sagte Jacob freundlich. Der dritte Junge versteckte schnell etwas hinter seinem Rücken, bevor auch er dem alten Mann zunickte.
„Sagen Sie, Herr Richard…“, setzte der Junge namens Jacob an, aber der Mann unterbrach ihn: „Nur Richard bitte, das reicht völlig!“
„Gut… also Richard…“, begann Jacob von vorne, wobei er etwas skeptisch guckte. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, fremde Erwachsene mit ihrem Vornamen anzusprechen. „Dürfen wir Sie etwas fragen?“
„Nun, eine Frage hast du ja schon gestellt“, sagte der alte Mann. „Dann kannst du auch ruhig noch eine zweite Frage stellen.“
Der Junge mit dem Namen Tom kicherte. Jacob sah ihn ein wenig unwirsch an.
„Sagen Sie… das hier ist doch Burgfeld, oder?“, fragte er.
„Wie es leibt und lebt“, bestätigte Richard. „Erstmals in den Annalen der Geschichte im Jahre 1129 erwähnt. Im letzten Jahr haben wir 875-jähriges Bestehen unseres kleinen Städtchens gefeiert. War ein tolles Fest; es gab einen großen Umzug, einen Jahrmarkt mit einer Achterbahn und eine geschlagene Woche lang jeden Tag Autokino hier auf dem Marktplatz.“
Er schwieg einen Moment und betrachtete die Kinder. Finn und Jacob sahen sich an, ganz offenbar waren sie über etwas, das er gesagt hatte, ziemlich erschrocken.
Dann wandte sich Finn zu dem Jungen namens Tom und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „2005?“, rief Tom, bevor er sich hastig die Hand vor den Mund schlug und rot anlief.
„Ich habe es euch doch gesagt“, murmelte Finn den beiden anderen zu, „das hier ist Burgfeld. Die Kirche ist beinahe genau gleich, nur die Tür wurde grün angestrichen. Da drüben stehen ganz merkwürdige Autos – sind das überhaupt Autos? Solche habe ich noch nie gesehen. Und irgendwas stimmt mit den Häusern nicht. Das Postamt hat eine völlig andere Farbe
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