Finne dich selbst!
’ner Steckdose und einer Glühbirne. Das Schlagzeug können wir von der anderen Band nehmen. Ich habe gestern Abend die Gitarren mal ausprobiert. Danke, dass du die mitgebracht hast.«
»Dafür nicht.«
»Wir haben grade das Demo aufgenommen. Sobald das abgemischt ist, kriegst du’s.«
»Wann kann ich euch hören?«
»Bei deinem nächsten Besuch in Finnland. Vielleicht aber auch vorher in Deutschland. Wir haben Anfragen.«
»Cool.«
»So, jetzt gehen wir zu den ethnologischen Studien über.«
»Was heißt das?«
»Lass dich überraschen.«
Wir gehen in den Irish Pub, später in den Ten Dollars Saloon. Was sich da jeweils abspielt, ist absolut gleich. Vor jedem Pub, vor jeder Kneipe stehen Männer in Schwarz und regeln den Einlass, freundlichst zwar, aber ich bin erstaunt.
»Heute ist Mittwoch, da ist noch alles ruhig. Am Wochenende geht das hier richtig ab.« Axel lacht. »Lahti hieß mal ›das Chicago von Finnland‹!«
Ich sehe drinnen einen Spieltisch: »Was ist das denn?«
»Der Roulette-Tisch? Das ist normal hier. In vielen Kneipen und Diskotheken stehen Spieltische. In fast jeder Nachtkneipe gibt es Roulette und Black Jack. Das gehört hier zur Kultur. Es gibt einen Höchsteinsatz, über den du nicht gehen darfst.«
»Und was ist das da?« Ich zeige zur Bühne.
»Das wollte ich dir zeigen. Karaoke.«
»Karaoke?«
»Die Finnen sind verrückt danach!«
»Gibt’s nicht!«
Rund um eine kleine Bühne sitzen Finnen aller Geschlechter und jeden Alters. Und genauso unterschiedlich ist die Musikauswahl. Wir trinken Bier und staunen – also, ich staune, für Axel ist dieses schier unglaubliche Nebeneinander längst Alltag. Sechzigjährige Damen mit gefärbten Haaren singen melancholische finnische Volkslieder, junge Mädchen singen englischen Pop, mittelalte Herren singen Country, Schnulzen und Balladen. Auf Bildschirmen laufen die Musikvideos mit den Texten als Untertitel, die die Sänger jeweils nur ablesen und vortragen müssen. Diese Nation ist absolut professionell am Mikrophon. Immer wieder gehen Finnen zum Discjockey und wünschen sich ein Lied. Ich erlebe einen Ablauf wie von Geisterhand gesteuert, einer perfekten Fernsehshow ebenbürtig. Lied um Lied wird gesungen, und das Publikum ist aufmerksam. Es gibt Applaus, nach jedem Lied. Reichlich und herzlich. Paare tanzen. Welches Land braucht das Original, wenn es solche Sänger hat? Der Finne genügt sich selbst. It’s raining men, halleluja.
»Das läuft hier fast jeden Abend«, sagt Axel.
Ein Hüne betritt die Bühne. Über 1 , 90 Meter. Er wankt leicht. Schließt die Augen, nimmt das Mikrophon und schaut zum Bildschirm. Der Text, die Untertitelung des Videos, ist bei diesem Lied zweisprachig, finnisch und französisch. Der Finne steckt eine Hand in die Tasche, wankt, aber fällt nicht und singt eine herzergreifende französische Version irgendeines Schmalzstücks der Musikwelt, und ich bin gerührt. Das alles ist absolut uneitel, niemand lässt sich feiern, keiner macht einen großen Auftritt. Das hier ist die reine Freude an der Musik, der Spaß am Gesang. Leise und bescheiden und mit ganz viel Herz.
Der DJ ist gleichzeitig der Animateur des Abends, den man aber nur selten braucht. Wenn tatsächlich mal niemand singen will, dann springen die Discjockeys ein. Axel flüstert mir ins Ohr: »Der Discjockey aus dem Ten Dollars hat grad bei ›Finnland sucht den Superstar‹ gewonnen.«
Ich höre zu und schaue mich um. Tatsächlich, der Finne steht im Karaoke dem Thailänder in nichts nach. Und die Finnen hier sehen tatsächlich alle so aus, als wären sie aus einem Kaurismäki-Film direkt an die Bar gesprungen. Plötzlich werde ich hineingezogen. Eine Frau steht vor mir und sagt: »Come on, dance with me!« Kirsti. Auch Kirsti scheint aus einem dieser Filme zu stammen. Kaurismäkis Filmtitel fallen mir ein. Ist sie »Das Mädchen aus der Streichholzfabrik«? Ich stehe in Flammen. Als ich tanze, fühle ich mich wie ein »Leningrad Cowboy«. Dies ist »das Leben der Boheme«. »Wolken ziehen vorüber«.
Wir stehen zwischen den Tischen und tanzen. Kirsti flüstert: »I don’t like the other guys!« Sie wasserspült mir in mein Ohr, sie habe sich auch zum Karaoke angemeldet. Wir tanzen. Mein Bruder geht und grinst. Dann singt sie »It’s raining men«. Ich tanze. Mein Ohr trocknet langsam. Ich flüchte, bevor das Lied zu Ende ist. Kein Finne lässt sein Mikrophon im Stich.
Pako
, Flucht, auch Ausbruch. Wegen
pelko
, Angst. Ich blättere
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