Finne dich selbst!
Zusammenfallen aller Fontänen, könnten sie wieder Anschluss finden. Aber nein, sie bleiben weiter ohne Strahl. Fast hat man Mitleid mit diesen untätigen Stahldüsen, die, statt mächtig zu spucken, sich fast depressiv ducken. Der Walzer ist beendet. Kleine Pause. Erneut beginnt das Brunnenspiel aus Kreiseln und geometrischen Figuren, fast scheint es ein Wettbewerb zu sein. Welche Düse spritzt höher? Welche schafft den schöneren Bogen? Nach wenigen Takten erkenne ich das Lied. Viivi verzieht ihr Gesicht. Axel nickt mir zu und sagt bedächtig: »Celine Dion«.
»Dijon? Wie der Senf?«, fragt mein Vater. Unsere Eltern, wie schon erwähnt, sind keine Kinogänger.
»My heart will go on«, dröhnt es aus den Bäumen. Der Superhit aus dem Film »Titanic«. Jeden Abend um kurz nach sechs erst der Säbeltanz und dann Celine Dion am See, im Winter mit Beleuchtung. Lahti wiegt sich im Takt. Celine singt sich die Seele aus dem Leib. Die Düsen tanzen. Das Rauschen des Wassers lässt durchaus ein Titanic-Feeling aufkommen. Gleich wird unsere Wiese den Eisberg rammen, unser Deck wird sich neigen, und wir werden unweigerlich in die kalten Fluten des Pikku Vesijärvi stürzen und um die letzten Plätze in den Rettungsbooten kämpfen.
Axel sagt: »Wenn der Wind vom See her kommt, hören wir die jeden Abend. Das ganze Lied. Immer wieder. Die beschallen halb Lahti mit Celine Dion.«
Viivi grinst: »Everybody must hate her!«
Später, nach dem obligatorischen Hafenrundgang, bringen wir Viivi und unsere Eltern nach Hause. Wir Brüder wollen noch mal los. Axel will mir typisch finnisches Nachtleben zeigen. Zuerst gehen wir in eine Kneipe, ins Hanhenpoika. Zum Gänschen. Hier bekomme ich meine Lektion in finnischer Popularkultur. Axel wirft zwei Euro in die Musikbox. »Hurriganes«, sagt er bedeutungsvoll. Sein und inzwischen auch mein Favorit. »Good morning little schoolgirl«. Treibender Rhythmus. Eine schöne Coverversion. Schon ein Hauch von Punk ist zu spüren. Die Männer an der Theke wippen begeistert mit den Köpfen. Siebziger-Jahre-Sound. Die Hurriganes sind
die
Band in Finnland gewesen, vom Anfang der siebziger bis in die achtziger Jahre. Mein Bruder ist ein wandelndes Musiklexikon, und auch für Finnland ist er bereits Experte. »Jeder in Deutschland kennt die Leningrad Cowboys, aber die hier waren der wahre Rock ’n’ Roll«, sagt er. Man hört es. Rau, begeisternd, kraftvoll.
Axel erzählt: Bandleader Henry »Remu« Aaltonen am Schlagzeug hatte den Hang zum Kleinkriminellen und saß diverse Male im Knast. Dort ließ man ihn weiter üben. Seine Lebensgeschichte und damit die der Band wurde verfilmt unter dem Titel »
Ganes – Elokuva Rockin Legendasta
«. Remu gilt inzwischen als »der große Großvater des finnischen Rock ’n’ Roll«. Unter dem Namen »Remu & the Hurriganes« ist diese Legende weiter unterwegs.
Axel drückt eine neue Tastenkombination an der Musikbox. Marko Haavisto & Poutahaukat: »
Paha Vaanii
«. Zum Schmelzen schön. Haavisto, der Bandleader, spielt Bass und singt.
»Kennst du den noch?«, fragt Axel.
Ich nicke.
»Wohnt in Lahti«, sagt er.
»Hier wohnen sie ja alle, Janne Ahonen, Marko Haavisto, du …«
Axel grinst. »Der spielt nächste Woche in Vääksy.«
»Gehen wir hin?«, frage ich.
»Das wär mein Plan!«
»Super. Was macht deine Band eigentlich?«
»Wir spielen demnächst wieder im Torvi.«
Axel hat »The Raw Cuts« gegründet. Sie spielen Garagenpunk. Miguel, Axels engster Freund hier, sitzt am Schlagzeug. Ein Portugiese in Finnland, verheiratet mit Satu, einer Finnin, Freundin von Viivi. Satu hat einige Jahre in Portugal gelebt. Sie und Miguel sind etwa zur gleichen Zeit aus Portugal gekommen, als auch Axel nach Lahti zog. Juha aus Lahti spielt Bass. Juha hatte klassische Gitarre studiert. Inzwischen arbeitet er viel als Tontechniker. Er spielt sonst eher in Hardcore-Bands.
»Juha sieht mit seinen langen Haaren eher aus wie ein Heavy-Metal-Typ.«
»Tja, Bernd. Das sind ganz harte Regeln in den Subkulturen, zwei Wochen nicht zum Friseur, und schon gehörst du zu einer anderen Szene.«
Wir lachen und trinken.
»Wir haben einen Proberaum zusammen mit einer Punkband. Die sind da schon jahrelang drin. Wir können nur nicht proben, solange noch Unterricht ist. Aber super eingerichtet, wie alles hier bei den Finnen. Kaffeemaschine, Toaster, Mikrowelle. Stell dir das mal vor. Im Proberaum! In Deutschland bist du froh, wenn du einen ehemaligen Bunker findest mit
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