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Finne dich selbst!

Finne dich selbst!

Titel: Finne dich selbst! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Gieseking
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Handelsschifffahrt. Von hier aus wurde auch Teer verschifft. Das Stadtwappen enthält daher ein brennendes Teerfass, denn diese Stadt wurde durch Teer reich. Überhaupt war Teer über Jahrhunderte eines der wichtigsten Produkte, eingesetzt in der Medizin, um Wunden abzudecken, aber auch ein unverzichtbares Mittel im Schiffsbau, um z.B. Holzboote abzudichten und für das Imprägnieren der Hanfseile. Der Teer wurde hier in der Region Kokkola hergestellt und bis nach Stockholm verkauft. Die Einnahmen halfen Kokkola, eine reiche Stadt zu werden. Man verwendete dafür Kokkolas Kiefernwälder. Die harzreiche Kiefer wird bis in eine Höhe von etwa drei Metern zu einem Drittel geschält, im zweiten Jahr das nächste Drittel, im dritten das letzte. Im vierten Jahr wird der Baum gefällt. Der Stamm, in dem sich über diese drei Jahre das ausgetretene Harz gesammelt hat, wird aufgespalten. Das Holz wird in eine mit Lehm abgedichtete Grube gelegt, mit Grassoden bedeckt, aus dem es Abzugslöcher gibt, es wird entzündet, und dann lässt man es über mehrere Tage schwelen. Auf keinen Fall darf es brennen. Ständig sind Wächter dabei, die den Brand kontrollieren, der im Extremfall auch zu einer Explosion führen kann, denn neben dem Teer tritt auch Terpentin, sogenannte »Teerpisse«, aus. Dann wird die Lehmgrube »angestochen« und der Teer wird in Fässer verfüllt.
    Auf diese Teer-Tradition besannen sich eines feuchten Abends die »unterdrückten Männer«, und sie beschlossen, ganz traditionell 1000  Liter des kostbaren Stoffes herzustellen. Sie hatten auf dem Gebiet der früheren Produktionsstätten eine alte Grube gefunden und instand gesetzt. Begeistert erzählt Hajo von seiner Nacht als »Brandwache«. Dann holt er ein kleines Holzfass von etwa einem Liter Fassungsvermögen und zieht den Holzstöpsel: »Riech mal!« Echter Teer.
    Das meiste, was die »unterdrückten Männer« tun – oder vielleicht auch anstellen –, passiert nie ohne eine gewisse öffentliche Anteilnahme. Hajo erzählt: »In Kokkola herrschte zum Zeitpunkt unserer Teerproduktion eine sogenannte Inversionswetterlage. Der Schwelbrand tauchte die ganze Stadt in Rauch. Wir wurden mit den ›unterdrückten Männern‹ in wenigen Stunden berühmt und berüchtigt zugleich.«
    Den Verkaufserlös der 1000  Liter Teer haben sie natürlich wieder einem sozialen Zweck zugeführt. Auch ich besitze jetzt ein kleines Teerfass. Hajo hat es mir geschenkt. Ich schnüffele regelmäßig.
     
    Meine Eltern haben sich inzwischen tatsächlich von Anna Maj und Hajo für die Nacht einladen lassen. Dann könnten unsere Gastgeber auch am nächsten Morgen noch mal nach dem Auge schauen, war deren Hauptargument. Es ist komplett zugeschwollen, in schönstem Blau-Lila. Arme Ilse. Die Patientin lässt sich aber davon nicht unterkriegen: »Wenn wir wenigstens eigene Bettwäsche mithätten … Aber so?« Wir erzählen Anna Maj und Hajo die lange Geschichte der Bettbezüge. Beide lachen sich kaputt. Anna Maj sagt: »Die Betten für euch sind längst bezogen!« Wir nehmen endgültig und dankend an.
    »Aber irgendwie müssen wir uns doch erkenntlich zeigen!«, sagt Ilse.
    Mir kommt eine Idee. Im Gepäck habe ich noch ein Buch: »Bei Inuit und Walfängern auf Baffin-Land, 1883 – 1884 «. Die Tagebücher des Wilhelm Weike, der den Mindener Forscher Franz Boas damals als Diener in die Arktis begleitete. Franz Boas wurde später ein Begründer der amerikanischen Anthropologie. Wir überreichen das Buch als kleinen Dank.
    Hajo schaut auf den Buchtitel, dann auf mich: »Du bist Mitherausgeber?«
    Ich nicke. »Alles Arktische hat mich immer schon fasziniert. Und die Reise dieser beiden jungen Männer, die auch noch aus meiner Heimatstadt stammen …«
    »Und wie bist du auf die beiden gekommen? Ich habe noch nie von denen gehört.«
    »Da war auch lange nicht viel veröffentlicht. Aber irgendwann stand ein Artikel im ›Mindener Tageblatt‹ über Boas, über einen Vortrag, den ein gewisser Ludger Müller-Wille gehalten hat. Ab da war ich sozusagen auf der Fährte. Und später auch auf den Spuren der beiden selber in der Arktis. Ludger ist mittlerweile ein Freund von mir. Wir haben das Buch zusammen gemacht.«
    »Hört mal, dann müsst ihr morgen unbedingt einen Freund von uns besuchen. Pentti. Mit ihm habe ich auch den Verein der unterdrückten Männer gegründet. Er hat ein arktisches Museum.«
    »Wie? Der hat ein arktisches Museum?«
    »Das hat er gegründet. Nanoq.«
    Ich bin platt!

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