Finne dich selbst!
Unterschied zwischen Rentier und Elch. Er kennt sich mit den Himmelsrichtungen aus und findet darum normalerweise in jedem Zustand nach Hause. Wenn er sich nicht sicher ist, geht er auf allen vieren. Wenn er eine Frau dabeihat, kann es auch sein, dass er nach Hause tanzt. Das ist schneller und sicherer, denn finnische Frauen stürzen nicht.
Wenn der Finne zu Fuß unterwegs ist, bleibt er tatsächlich an Fußgängerampeln stehen, sobald sie Rot zeigen. Die ganze Straße kann frei sein, es kann tiefste Nacht sein, nirgends ein Kind zu sehen, das man verderblich beeinflussen könnte, der Finne bleibt bei Rot stehen. Wenn er sehr betrunken ist, bleibt er sogar stehen, wenn die Ampel Grün zeigt. Das kann Stunden dauern, ich habe das selber gesehen.
Wenn der Finne mit dem Auto unterwegs ist, verhält es sich umgekehrt. Nie bremst er an Zebrastreifen. Da können noch so viele Fußgänger stehen, der Finne fährt durch. Vielleicht ist das der Grund, dass er zu Fuß auch nachts an roten Fußgängerampeln stehen bleibt. Wahrscheinlich ist es reiner Überlebenswille!
Zusammengefasst: Finnen sind großartige Menschen, ganz oft rundheraus glücklich und doch manchmal von großer Traurigkeit. Bei der sprichwörtlichen finnischen Konsequenz führt das dazu, dass sie im Selbstmord europaweit führend sind, und um jeden Einzelnen von ihnen ist es schade. Mir war der Finne, als ich ihn kennenlernte, auf merkwürdige Art vertraut. Und dann verstand ich es. Der Finne ist zwar anders innerhalb der Völkerschaften Europas, anders als der quirlige Italiener, der oft rotbeschopfte und manchmal dumpfe Engländer. Aber innerhalb der Völkerschaften Deutschlands ist ja auch der Ostwestfale anders, anders als der nähmaschinenemsige Schwabe, der brauereipferdverhaltene Franke oder der bedächtige Nordhesse. Und dann wurde mir klar: Der Finne ist der Ostwestfale Europas. Und nun bin ich sicher: Darum hat sich mein ostwestfälischer Bruder Axel in die Finnin Viivi verliebt – es ist eine barrierefreie Verbindung. Es mussten keine großen kulturellen Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Die Zahl der möglichen und tatsächlichen Missverständnisse ist begrenzt, denn man ist verwandt in Wesen und Sein. Und darum muss ich sagen: Ja, der Finne ist anders, aber er ist eben anders, als man denkt!
Heim und Weg
Wir haben ein letztes Mal gemeinsam gefrühstückt, dann muss Viivi zur Arbeit. Wir bringen sie nach draußen zu ihrem hellblauen Käfer. Sie umarmt meine Eltern: »Härrrmann! Ilsssä!«
Dann umarmt sie mich: »Berntti!«
»Wann kommt ihr das nächste Mal nach Deutschland?«, fragt Ilse.
»Im November, der Flug ist gebucht.«
»Na ja, wir hören ja bis dahin voneinander, und außerdem schreibt ihr bestimmt zwischendurch einen Emil an Bernd.«
Ilses Wortschöpfung »einen Emil« statt »eine E-Mail« gefällt ihr so gut und sie spricht es so gekonnt, dass mittlerweile fast schon die gesamte Kutenhauser Nachbarschaft diese Begrifflichkeit übernommen hat.
»Viivi, mach es gut«, sagt Ilse leise.
Wir winken ihr hinterher.
Wir packen den Wagen. Hermann und Axel reichen mir Taschen an, Ilse schmiert Brote. Dann ist es so weit. Abschied. Axel und ich geben uns die Hand und sehen uns an. Dann umarmen wir uns.
»Bring sie heil nach Hause.«
»Mach ich.«
»Alles Gute.«
»Für dich auch. Viel Glück mit der Band.«
Ich setze mich ins Auto. Im Rückspiegel sehe ich, wie Axel erst Hermann umarmt, dann Ilse. Ich höre nicht, was sie sagen. Sie steigen ein. Axel klopft aufs Autodach.
»Machs gut.«, sage ich aus dem geöffneten Fenster.
»Jau.«
»Bis dann!«, sagt Ilse noch einmal.
Sie sitzt neben mir, Hermann hinten. Ich schaue in den Rückspiegel. Er wischt sich die Augen. Wir schweigen. Ich fahre aus Lahti raus, ein kurzes Stück Autobahn. Ilse schaut nach rechts aus dem Fenster. Wir schweigen. Für mindestens 70 Kilometer. Wir sind auf dem Rückweg nach Deutschland. Ich hänge meinen Gedanken nach.
Wir fahren durch das Land, vorbei an Seen und Bäumen. Wir wollen in Turku auf die Fähre und dann durch Schweden und Dänemark nach Hause. Ich erfreue mich wieder an den Warnschildern, die auf fast jedem Kilometer vor Elchen warnen.
Ilse sagt plötzlich: »Ich finde das nicht gut, dauernd werden Elche angekündigt, und dann kommt doch keiner!«
Wir übernachten in Turku. Am Abend spazieren wir am Kanal entlang und machen Pause auf einem der hier vertäuten Restaurantboote. Am nächsten Tag nehmen wir morgens die
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