Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen
dort im See muntere Fontänen in den Himmel bläst und mir hin und wieder mitfühlende Blicke schenkt? Keine Frau ist so groß.
Dennoch, es ist vollkommen klar, was im Moment zu tun ist. Nicht zögern, nicht denken: einfach springen.
STUFEN
I m Lauf der Evolution - nirgendwo auf der Welt lässt sich das so gut studieren wie an den Stegen finnischer Waldseen - hat der Homo sapiens drei grundverschiedene Strategien im Umgang mit absurd kalten Gewässern entwickelt. Der Typus Springer fragt, wie der Name bereits sagt, weder nach exakter Temperatur noch nach Wassertiefe und wirft sich einfach hinein. Frauen meist ohne Kommentar und Ankündigung (allenfalls einem kurzen, spitzen Schrei), junge Männer gängigerweise mit einigem Trara, Anzählen und dergleichen Scherzen mehr. Aber das gibt sich.
Kalt ist kalt, da kommt es auf graduelle Unterschiede nicht an, denkt sich der Springer und weiß die Vernunft auf seiner Seite. Gewiss, hin und wieder erlebt er böse Überraschungen, gleicht dies aber als Typ durch eine allgemein gesteigerte Erfahrungsintensität aus, vor allem durch das soziale Kapital, das er mit seiner Kühnheit gerade in Fällen des Gruppenbadens erworben zu haben weiß. Beweisen kann ich es nicht, glaube aber, dass gut 75% der Badeunfälle weltweit auf das Konto von Springern
gehen und dieser Typus überdies eine signifikant erhöhte Scheidungswahrscheinlichkeit aufweist. Das wäre empirisch zu prüfen.
Am anderen Ende der Skala finden wir den Umdreher. Er oder sie geht überaus entschlossen auf das Ziel zu, verlangsamt den Schritt gegen Ende jedoch deutlich und sieht sich sodann, meist sehr lange, erst einmal um. Es ist mir nicht klar, ob der Umdreher begreift, dass er in diesem Zeitraum genau jene entscheidenden Dezigrade Körpertemperatur einbüßt, die es ihm, wäre er ein anderer Mensch, ermöglichen würden, den entscheidenden letzten Schritt zu gehen.
Jedenfalls begibt sich der Umdreher nun in die Hocke und prüft die Wassertemperatur, indem er die rechte, zur Schaufel geformte Handfläche wiederholt durch das Wasser führt. Nach einer weiteren, kürzeren Orientierungsphase erfolgt nun die eigentlich namensgebende Aktion: Er dreht jetzt nämlich um oder ab, und zwar mit derselben Entschlossenheit, die seine allerersten Schritte zum Gewässer hin kennzeichnete.
Nach einigen Metern verlangsamt er seine Schritte wieder und dreht sich ein weiteres Mal um, wendet sich also erneut dem See zu und legt seine dritte und längste Beobachtungsphase ein, die mehr den Menschen im Gewässer als dem Gewässer selbst gilt. Es ist ein merkwürdig stabiles Skript und vollkommen kultur- und ortsunabhängig. Man kann es in gleicher Ausprägung auch an den Atlantikstränden Europas oder Amerikas beobachten.
Bei all dem bleibt nicht ausgeschlossen, dass der Umdreher sich doch noch im Wasser wiederfindet: entweder,
indem er sich durch Hänseleien bereits Badender so weit gereizt oder gar erniedrigt fühlt, dass er in Sekundenbruchteilen zum Springer mutiert, oder aber er wird von besonders extrovertierten Springern unter Keifen und Klagen in den See geworfen - was meiner Erfahrung nach die wenigsten Umdreher wirklich übel nehmen. Meist lächeln sie schon nach wenigen Minuten dankbar und machen munter mit.
Der dritte Typus lässt sich als Geher bezeichnen. Was den Geher wesentlich vom Umdreher unterscheidet, ist, dass er nicht umdreht. Da dieser Typus am häufigsten ist, erfordert er eine weitere Unterscheidung zwischen dem kalten Geher und dem, wie ich ihn nennen möchte, lauwarmen Geher (ein heißer Geher wäre praktisch ein Springer).
Kennzeichnend für den kalten Geher ist die entschlossene Kontinuität seiner Bewegung hin zum See. Fern von Hast oder Zögerlichkeit verlangsamen kalte Geher ihren Schritt zu keinem Zeitpunkt. Der kalte Geher besticht mit anderen Worten durch Affektkontrolle. Ohne sichtbare Regung lässt er sich Stufe um Stufe rücklings hinein in das Gewässer. Nicht einmal an der kritischen Übergangsstelle von den Oberschenkeln zum Schambereich zuckt, zögert oder maunzt er. Eine erstaunlich hohe Anzahl kalter Geher zeigt allerdings die Gewohnheit, sich bei der letzten, entscheidenden Abstoßbewegung hinein in den See die Nase zuzuhalten, wozu lauwarme Geher seltsamerweise nicht neigen.
Der lauwarme Geher nähert sich dem Gewässer behutsam und legt, gleich dem Umdreher, am Steg angelangt
eine erste Reflexionspause ein, in deren Verlauf er ein intensives und meist hörbares Gespräch mit sich
Weitere Kostenlose Bücher