Finnischer Tango - Roman
hätte sie wieder bedroht, aber niemand kann das bestätigen. Und Mikko Reiman dürfte kaum etwas mit den Drogen zu tun haben.«
»Auch ich habe etwas Wichtiges zu berichten«, sagte Wrede übertrieben ruhig und betrachtete Ulla Palosuo, die schon die Hand auf der Klinke hatte. »Die Männer, die German Dworkin, den neuen Dealer von Arbamow, beschatten sollten, haben ihn letzte Nacht aus den Augen verloren. Das ist allerdings kein Wunder, die Jungs hatten nur den Haupteingang des Hotels überwacht.«
Ulla Palosuo verließ das Zimmer und hätte am liebsten laut geflucht.
»Du kommst doch heute Abend zur Weihnachtsfeier?«, rief der Schotte ihr fröhlich hinterher.
22
Hunderte Menschen starrten schweigend nach oben, als die Trapezkünstlerin Anlauf zu ihrem lebensgefährlichen Vierfachsalto nahm. Es schien so, als hätte auch das über hundert Jahre alte Zirkusgebäude am Ufer des Fontanka-Kanalsden Atem angehalten. Die grazile, aber kräftige Frau ließ die weiße Stange los, drehte sich in der Luft wie ein Windrad und landete dann mit den Handgelenken genau im Griff ihres Partners, der ihr entgegenschwebte. In der Frühvorstellung des Petersburger Zirkus ertönte ein Aufschrei aus vielen Kehlen, und ein tosender Beifallssturm setzte ein, auch Veikko Saari klatschte wie alle anderen.
Wenig später verkündete ein Mann in einer prächtigen Uniform etwas auf Russisch, und aus dem schallenden Gelächter der vielen Petersburger Schüler schloss Saari, dass als nächstes Clowns die Arena betreten würden. Bis es so weit war, ließ er seinen Blick über die lächelnden und kichernden Kinder wandern, die vor Begeisterung auf ihren Sitzen hin und her rutschten.
Es verwirrte ihn, dass er sich so intensiv an die Kindheit erinnerte, zu einem Zeitpunkt, da sich das Leben seinem Ende näherte. Saari dachte daran, wie er und die Gebrüder Mattila nach dem Krieg, Anfang der fünfziger Jahre, wochenlang alle möglichen Arbeiten übernommen hatten, um das Geld für die Eintrittskarten zum Zirkus Sariola zusammenzusparen. Noch immer waren ihm das Staunen und die Freude als kleiner Junge im Zirkus gegenwärtig. Solche echten Gefühle hatte er schon seit langer Zeit nicht mehr empfinden können.
Das Kind in ihm war wohl gestorben, weil er in seiner Zeit als Polizist genug Leute vom Schlage Wassili Arbamows getroffen hatte. Oder hatte er es mit all den Drogen getötet, die er im Laufe der Jahrzehnte in sich hineingestopft hatte?
Saaris Stimmung verdüsterte sich. Er stand auf, gerade als wieder schallendes Gelächter durch die Arena klang, und betrachtete auf dem Weg zum Ausgang die vergoldeten Ornamente des Zirkusgebäudes, die purpurroten Samtverzierungen,die großen Spiegel und die gewaltigen Kronleuchter aus Kristall.
Dem Wartenden wird tatsächlich die Zeit lang, dachte Saari, als er im schneidend kalten Wind zur Metro-Station Gostiny Dwor lief. Er hatte in Petersburg eine Aufgabe, und nur deswegen war er hier. Immerhin hatte nun endlich alles begonnen, aber es ging nur im Schneckentempo voran. Saari wollte sich nicht mehr in seinem Hotelzimmer verstecken, obwohl einst Marschall Mannerheim hier gewohnt hatte.
In der Metro-Station ging er zum Bahnsteig hinunter, fuhr bis zur Station Sadowaja und trat wieder hinaus in den frostigen Wind. Er wollte alle wichtigen Orte aus Dostojewskis Roman »Schuld und Sühne« besuchen. Die zwei Menschen, die er am meisten bewunderte, hatten Jahre ihres Lebens in Sankt Petersburg verbracht: der größte Soldat und der größte Schriftsteller der Welt, Mannerheim und Dostojewski. Der Mannerheim-Rundgang war erst später an der Reihe, das Beste kam zuletzt.
Saari stand vor der Metro-Station, schaute zum Sennaja Ploschtschad, dem Heumarkt, und versuchte sich vorzustellen, wie es da zu Dostojewskis Zeiten ausgesehen hatte. Ein Irrenhaus, in dem es von Menschen nur so wimmelte: Betrunkene, Straßenjungen, Obdachlose und Prostituierte, Restaurants, Herbergen …
Er ging in Richtung Norden, überquerte den Gribojedow-Kanal, bog nach links ab und blieb an der Kreuzung mit der Stoljarny-Gasse stehen. Saari wusste, was auf dem Schild am Eckhaus zu lesen war: »Raskolnikows Haus. Fjodor Michailowitsch Dostojewskis an die ganze Menschheit gerichtete leidenschaftliche Botschaft der Herzensgüte beruhte auf den unglücklichen Schicksalen der Menschen, die dieses Haus in Sankt Petersburg bewohnten.« Er bewunderte das Haus der Romanfigur Rodion Raskolnikow nur kurz.
Dann setzte er seinen Rundgang in
Weitere Kostenlose Bücher