Finnisches Blut
den leeren Bahnsteig kamen, mußten sie annehmen, daß er den Zug in Richtung Ruoholahti noch erreicht hatte. Am Hauptbahnhof wäre er in Sicherheit. Falls er es schaffte, bevor der nächste Zug kam …
Ratamo hatte nicht die geringste Ahnung, wo er im Tunnel laufen mußte, um keinen tödlichen Stromschlag zu bekommen. Neben der äußeren Schiene verlief eine gelbe Leiste mit der Aufschrift »LEBENSGEFAHR«. Er glaubte, daß der Strom entweder in der Leiste oder in den Schienen geführt wurde, weil über den Gleisen keine elektrischen Leitungen oder Kabel zu sehen waren. Zwischen den Schienen zu laufen |210| war jedoch nicht einfach, vor allem, als es im Tunnel immer finsterer wurde, je weiter er sich vom Bahnhof entfernte. Er orientierte sich an den Tunnelwänden, die man im Dunkeln schemenhaft erkennen konnte.
Obgleich die Entfernung bis zum Hauptbahnhof fast einen Kilometer betrug, rannte Ratamo, so schnell er nur konnte. Er erinnerte sich noch gut, wie er im Fußballverein als Junior beim Aufbautraining im Sommer mehrmals fünfzehnhundert Meter laufen mußte und ihm wegen der Übersäuerung die Beine steif geworden waren, weil er die Strecke zu schnell angegangen war. Die Vorstellung, von einem Metrozug überrollt zu werden und zusätzlich noch einen Stromschlag zu bekommen, war jedoch so schrecklich, daß er sein Tempo trotzdem nicht verringerte.
Wenig später sah Ratamo einen kleinen Lichtpunkt. Der Hauptbahnhof kam näher. Er durfte keine Zeit für einen Blick auf die Uhr verschwenden, und das hätte auch nichts genützt, denn er lief ohnehin schon, so schnell er konnte. Mit aller Kraft pumpte er Luft in die Lungen. Die Beine wurden immer schwerer. Sein Herz hämmerte wie der Drummer einer Heavy-Metal-Band.
Der Lichtpunkt wurde rasch größer. Jetzt hörte Ratamo schon ein Zischen hinter sich. Der Zug kam. Das Geräusch wurde lauter. Er versuchte das Tempo zu beschleunigen, aber nichts geschah. Seine Beine waren wie Beton, in der Lunge spürte er stechende Schmerzen. Das Zischen wurde noch lauter. Etwa hundert Meter vor ihm war der Bahnhof zu sehen, und hinter ihm dröhnte der Tod. Ratamo schaute über die Schulter zurück. Der Zug war nur wenige hundert Meter entfernt, er näherte sich mit hohem Tempo und leuchtete schon den ganzen Tunnel aus. Der war jedoch so schmal, daß er sich nicht zur Seite werfen konnte.
|211| Ratamo erreichte das Ende des Bahnsteigs, der sich in Brusthöhe befand, doch um sich festhalten zu können, müßte er auf die Schiene treten. Das wollte er aber nicht, weil er nicht wußte, ob sie unter Strom stand. Er nahm, so gut es ging, Anlauf, sprang über die Schiene hinweg und landete mit dem Ellenbogen auf der Bahnsteigkante. Er hing in der Luft, mit angezogenen Beinen, und wagte nicht, die Füße auf den Boden zu setzen, weil er fürchtete, die Schiene zu berühren. Das Dröhnen des Zuges war ohrenbetäubend. Ratamo zog sich hoch, schwang das rechte Bein auf die Kante und rollte sich im selben Augenblick auf den Bahnsteig, als ihn der Luftstrom des vorüberfahrenden Zuges traf.
Ein Dutzend Leute stieg aus. Niemand bemerkte den Mann, der, etwa zehn Meter vom letzten Wagen entfernt, auf dem Bahnsteig lag und nach Luft schnappte. Er war in Sicherheit, aber auf dem Hauptbahnhof konnte er nicht bleiben.
Ratamo stand auf und ging, immer noch keuchend, zur Rolltreppe. Den Sommermantel, den Pirkko Jalava ihm gegeben hatte, zog er aus. Das war die einzige mögliche Änderung seines Äußeren. Das Geld und das Handy schob er in die Hosentasche. Das weite Hemd verdeckte den Griff der Waffe, die er in den Gürtel gesteckt hatte.
Mit kurzen, schnellen Schritten lief Ratamo die Rolltreppe hinauf, sprintete durch die Bahnhofshalle bis zu den großen Holztüren auf der Ostseite und verließ das Gebäude. Draußen warf er einen Blick auf den Bahnhofsplatz und rannte dann zu dem nächsten abfahrbereiten Bus. Ratamo saß in einem Bus der Linie 72, wohin der fuhr, war ihm völlig egal. Er war glücklich, daß er noch lebte. Als er wieder ruhiger atmete und der Adrenalinspiegel sank, wurde ihm klar, was er eben geschafft hatte: Es war ihm gelungen, den geschulten russischen Agenten zu |212| entkommen. Das erfüllte ihn mit Stolz. Dieses Gefühl hielt jedoch nicht lange an. Ratamo begriff, daß seine russischen Kidnapper zu der Organisation gehören mußten, die heutzutage in Rußland die Aufgaben des KGB wahrnahm. Seine Lage schien nun noch hoffnungsloser: Er wurde vom Aufklärungsdienst der
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