Finnisches Blut
räudiger Hund.
Endlich hörte er Geräusche auf dem Flur. Die Tür des Verhörraums öffnete sich quietschend. Ein junger, breitschultriger Mann schaute vorsichtig herein. Hinter ihm hielt eine ältere, übergewichtige Frau ein Tablett mit einem großen Stapel belegter Brote und einer Kanne Wasser.
Der Gefangene saß mit dem Gesicht zur Tür und geschlossenen Augen in einer seltsamen Stellung am Tisch. Seine Hüfte ruhte auf einem Stuhl, die Beine lagen auf einem anderen Stuhl, und die Arme und der Oberkörper hingen schlaff auf dem Tisch. Seinen Mantel hatte er angezogen, die Tasche auf dem Tisch war leer.
Der junge Mann trat vor den Gefangenen, eine Hand am Griff der Waffe im Schulterhalfter. Es sah so aus, als würde der |205| Gefangene schlafen. Die Frau setzte das Tablett vorsichtig auf den Tisch, drehte sich um und ging zur Tür, vorbei an dem Wächter, der seine Waffe losließ und dem Finnen den Rücken zuwandte.
Ratamo setzte die Füße auf den Boden und griff mit beiden Händen nach der hölzernen Stuhllehne. Er drehte sich um, machte zwei Schritte auf den Wächter zu, hielt den Stuhl mit ausgestreckten Armen und schlug damit dem Wächter auf den Kopf.
Der Mann fiel lautlos um und lag auf dem Rücken. Ratamo betrachtete den jungen Mann und spürte ein brennendes Schuldgefühl. Er hatte einen Menschen umgebracht. Das würde er nie überwinden. Gezwungenermaßen verdrängte er seine Gefühle – friß oder du wirst gefressen. Er beugte sich über den Toten, um ihm die Waffe aus dem Halfter zu nehmen, doch plötzlich griff der Mann nach seinem Hals. Im Handumdrehen waren die Rollen vertauscht. Als der Wärter versuchte aufzustehen, zog Ratamo ihm die Beine weg, packte ihn an den Haaren und schmetterte seinen Kopf auf den Fußboden. Die Hand an seinem Hals fiel schlaff herunter. Endlich einmal hatten die Prügeleien als Junge in einer Clique einen Nutzen gebracht. Ratamo zitterte, dankte aber seinem Schöpfer, daß der Wächter noch lebte.
Die Frau, die das Tablett gebracht hatte, stand erstarrt da und schaute Ratamo entsetzt an, die Hände vors Gesicht erhoben. Sie hielt ihn vermutlich für einen Psychopathen der schlimmsten Sorte. Ratamo ging mit großen Schritten zur Schwelle und zielte mit der Waffe aus zwanzig Zentimetern Entfernung mitten auf die Stirn der Frau. »Geh zur nächsten Haustür«, sagte er in seinem schärfsten Befehlston.
Sie nickte, ging im Laufschritt den fensterlosen Flur entlang |206| und schaute sich immer wieder nach Ratamo um. Für den Fall, daß der Wächter wieder zu Bewußtsein kommen sollte, schob Ratamo den Metallriegel der Tür zu. Er folgte der Frau und prüfte dabei die Waffe des Wächters. Mit Handfeuerwaffen hatte er nur in der Unteroffiziers- und Reserveoffiziersschule geschossen, und er besaß nicht die geringste Ahnung, ob die Pistole gesichert war oder nicht. Er schob den Hebel in die Stellung, die er für die richtige hielt.
Im Flur sah man in regelmäßigen Abständen die gleichen Metalltüren wie im Verhörraum. Am Ende des Ganges führte eine steile Betontreppe zu einer Tür hinauf. Rechts von ihr befand sich ein elektronisches Lesegerät für Schlüsselkarten. Die Frau blieb vor der Tür stehen und drehte sich zu Ratamo um, der die Waffe auf sie richtete und in Richtung Tür nickte. Die Frau verstand den Befehl und zog die Karte, die an einer Kette um ihren Hals hing, durch das Lesegerät. Man hörte ein elektrisches Surren und ein Knacken, als sich das Schloß öffnete. Ratamo nahm der Frau die Karte ab, ging durch die Tür hinaus und schloß sie hinter sich. Er stellte fest, daß er sich mitten in einem riesigen Foyer befand. Die dicken roten Samtvorhänge an den Fenstern waren alle zugezogen. Ein paar Meter vor ihm stand ein großer eichener Tisch, und dahinter saß eine Frau, die aussah wie eine Gefängniswärterin. Die Frau bemerkte die Waffe, griff schnell unter den Tisch und stand auf. Ratamo war überzeugt, daß sie auf den Alarmknopf gedrückt hatte, obwohl man nichts hörte. Die großgewachsene Frau ging auf Ratamo zu, der die Waffe auf sie richtete und ihr befahl, stehenzubleiben und niederzuknien. Erleichtert sah er, daß sie gehorchte. Was sollte er jetzt tun? Er war auf der Flucht, es ging um Leben und Tod, und er hatte keine Zeit, die Frau zu fesseln. Doch frei zurücklassen konnte er die Amazone auch |207| nicht. Er ging um sie herum und schlug ihr mit dem Griff der Waffe auf den Hinterkopf. Die Frau sackte zusammen und fiel auf die Seite.
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