Finnisches Blut
Gegenmittel weder auf dem Zentralcomputer noch auf Ratamos oder Mannerahos PC befand. Der SVR fand heraus, daß Ratamo keinen Laptop und keinen stationären Computer zu Hause hatte. Auf dem Zentralcomputer der EELA war jedoch unter Nutzung von Ratamos Kennung die Notiz »Gegenmittel gefunden« geschrieben worden. Als Sterligow beim Verhör in der Tehtaankatu sicherheitshalber noch einmal nachgefragt und von Ratamo die vollkommen richtige Antwort erhalten hatte, war er endgültig überzeugt gewesen, daß die Formel für das Gegenmittel existierte. Der SVR hatte sofort intensive Aufklärungsmaßnahmen in Angriff genommen, um zu verhindern, daß andere Nachrichtendienste Wind von der Sache bekamen. Deshalb fütterte er sowohl den Waffenmarkt als auch die Spionageszene mit irreführenden Informationen. Er wollte das Alleinrecht an der Formel für das Gegenmittel. Das Medikament würde Mütterchen Rußland – oder zumindest die wichtigsten Bürger – vor möglichen Anschlägen der kleinen Republiken der Föderation oder der GUS-Staaten mit Ebola-Biowaffen schützen. Die Bewohner anderer Länder waren nicht so wichtig. Das Ebola-Virus brauchte Rußland nicht. Das besaß es selbst.
Sterligow nahm aus der Jackentasche eine kleine Metalldose und klopfte mit dem Finger darauf, so daß zwei weiße Pillen |216| auf seine Hand fielen. Er steckte sie in den Mund, trank ein Glas Wasser, räusperte sich und begann den neuesten Lagebericht zu lesen. Demnach waren die Röhrchen mit dem Ebola-Blut zu Siren nach Hause gebracht worden, und seine Sekretärin hatte Vorbereitungen für eine London-Reise ihres Vorgesetzten getroffen. Sterligow lächelte. Schon am Mittwochabend hatte er sich bei seinem Kontaktmann im FSB, dem für die Inlandaufklärung der russischen Föderation zuständigen Geheimdienst, vergewissert, daß die Geschichte vom Schmuggel mit Waffen der russischen Armee, die Siren Ketonen erzählt hatte, eine Lüge war. Auch die Gespräche Sirens mit Vairiala sowie seine Anrufe hatten darauf hingedeutet, daß der Chef des Operativen Stabs beabsichtigte, die Blutröhrchen und die Formel des Gegenmittels zu verkaufen. Das hatte sich jetzt bestätigt. Aber was könnte Sirens Motiv sein?
Sterligow bekam Appetit auf Tee und rief in der Küche an. Dann dachte er angestrengt darüber nach, ob er Sirens Absichten vereiteln sollte. Wenn er die Finnen in ihrem eigenen Saft schmoren ließe, käme es durch Sirens Verrat zu einem Skandal, der die Arbeit der finnischen Nachrichtendienste erheblich beeinträchtigen würde. Das wiederum wäre aus der Sicht des SVR ganz ausgezeichnet. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er Siren verraten sollte oder nicht.
Und er hatte noch ein anderes Problem. Sollte er die Ereignisse in Helsinki Nuikin melden? Laut Dienstvorschrift hätte er die Einzelheiten im Zusammenhang mit der Entdeckung des Gegenmittels schon nach Moskau berichten müssen. Sollte er aber wirklich das Risiko eingehen, daß die Informationen über das Gegenmittel und Ratamos Flucht aus dem SVR in andere Hände gelangten? Nuikin war einer der wenigen, denen Sterligow vertraute, aber die Entdeckung war so bedeutungsvoll, |217| daß Nuikin möglicherweise seinen eigenen Vorgesetzten, den Chef des SVR, informierte. Dieser wiederum könnte Vympel, die berüchtigte Antiterroreinheit des SVR, nach Finnland schicken, und die würde ihm das Virus vor der Nase wegschnappen. Vielleicht würde irgend jemand Verbindung zum Chef des FSB aufnehmen, oder der FSB würde sich die Information selbst beschaffen. Sterligow vertraute dem Geheimdienst für die Inlandaufklärung nicht. Der wurde auch schon in der Öffentlichkeit verdächtigt, Attentate, Erpressungen und andere kriminelle Handlungen zu begehen. Sogar seine eigenen Agenten hatten öffentlich berichtet, daß man innerhalb der Organisation große Schwierigkeiten bekommen konnte, wenn man sich weigerte, gesetzwidrige Aufträge auszuführen. Vielleicht würde der FSB seine Antiterror-Kommandoeinheit Alfa schicken, um das Virus und die Menschen, die davon wußten, zu liquidieren. Auch der GRU, der militärische Aufklärungsdienst, wäre möglicherweise daran interessiert, in den Besitz des Viruspakets zu gelangen. Es gab einfach zu viele Risiken. Er beschloß, entgegen der Dienstvorschrift darüber nichts nach Moskau zu berichten.
Der Tee ließ auf sich warten. Das ärgerte ihn. Und wenn er an den FSB dachte, verschlechterte sich seine Laune noch mehr. Der FSB war zu mächtig geworden. Die
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