Finnisches Blut
er dann noch am Leben wäre. Es hinderte ihn nichts mehr daran, seine unfreiwillig gewählte Arbeit mitsamt dem Zwang zum Aufstieg auf der Karriereleiter aufzugeben und etwas völlig Neues anzufangen. Aber was? Er hatte keine Lust, noch einmal lange zu studieren. Hobbys besaß er zwar genug, aber keines von ihnen interessierte ihn so sehr, daß er sich für Jahre an dieses Gebiet binden wollte. Er wußte nur eins, er würde nicht in das stille Kämmerlein des Forschers und in die Tretmühle zurückkehren. Wer sein eigener Herr war, brauchte nicht nach der Pfeife anderer zu tanzen und fünf Tage |224| in der Woche nach der Stechuhr zu leben. Er gab sich selbst das Versprechen, sich die Bedingungen für sein Leben niemals mehr von anderen diktieren zu lassen. Künftig würde er das tun, was er selbst wollte und was ihm Genuß bereitete.
Die Planung für ein Ende des Lebens in fremden Kulissen lud seinen Akku mit positiver Energie auf. Er hatte also neben Nelli noch einen anderen Grund, um sein Leben zu kämpfen. Komisch, daß erst alles zusammenbrechen mußte, damit man wieder Geschmack am Leben fand.
Ratamo stieg in ein Taxi und zuckte zusammen, als er den Fahrer erblickte. Der Mann sah aus wie ein Doppelgänger von Himoaalto. Wenn er doch jetzt auf dem Weg zum Saunaabend mit seinem alten Freund wäre, dafür hätte Ratamo sogar seinen Platz im Himmel hergegeben.
»Zur Viiskulma«, sagte er dem Fahrer. Sicherheitshalber gab er keine Adresse an. Man konnte ja nie wissen …
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»Wir sind da!«
Ratamo schreckte hoch, als er den Taxifahrer hörte.
Es war halb zehn, und die Sonne ging gerade unter. Ratamo wußte ungefähr, wo sich die Pursimiehenkatu 16 befand. Etwa zweihundert Meter vor dem Haus blieb er stehen und schaute sich in aller Ruhe um. Nirgendwo war etwas Ungewöhnliches zu sehen. Niemand schien ihm zu Fuß oder im Auto zu folgen, und die Straßen waren fast leer. Wer am Abend dieses heißen Tages nicht feierte, starrte vermutlich in die Röhre. Ratamo sah amüsiert zu, wie aus der Kneipe nebenan ein Mann geschwankt kam, der ganz sicher nicht vortäuschte, betrunken zu sein.
Ratamo holte Pirkko Jalavas Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Haustür und betrat den dunklen Treppenflur. Auf der Tafel mit den Namen der Mieter sah er, daß Pirkko Jalava ganz oben, in der dritten Etage, wohnte. Das Haus hatte einen Fahrstuhl, aber er ging die Treppe hinauf und spürte, wie Angst in ihm hochkroch, als er sich langsam und lautlos der fremden Wohnung näherte. Woher sollte er wissen, was ihn dort erwartete. Er klingelte. Als nichts zu hören war, schloß er auf und rief den Namen der Hausherrin. In der Wohnung blieb es dunkel. Ratamo hatte das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte. Sollte er lieber die Flucht ergreifen und wegrennen? Aber wohin? Er brauchte unbedingt Hilfe. Also schaltete er das Licht an und schaute sich vorsichtig um. Es schien niemand in der |226| Wohnung zu sein. Die Anspannung wich allmählich, er zog die Schuhe aus, warf den Mantel auf einen Stuhl im Flur und versteckte die Pistole darunter. Auf dem Flurtisch lagen mehrere Ladegeräte, eines paßte zu seinem Handy.
Die Dreizimmerwohnung war typisch für einen Singlehaushalt. Ratamo wunderte sich jedoch, wie unpersönlich sie wirkte. Pirkko Jalava hatte auf ihn den Eindruck einer Frau mit ausgeprägter Individualität und großer Ausstrahlung gemacht. Es war jedoch nichts zu sehen, was etwas über die Bewohnerin ausgesagt hätte. Kein Foto, keine Ansichtskarte oder ähnliches. Er war jedoch zu müde und zu hungrig, um weiter darüber nachzudenken. Das letzte Mal hatte er gegen Mittag bei Stockmann etwas gegessen. Und danach hatte er soviel Energie verbraucht wie sonst in einer ganzen Woche nicht.
Der Kühlschrank erwies sich als wahre Schatzkammer. Im Handumdrehen hatte Ratamo die Hälfte des Inhalts verschlungen, vom Hüttenkäse über den Schinken bis zur Preiselbeermarmelade. Der wunderbar sahnige Pilzsalat war eine echte Delikatesse. Zu seiner großen Freude entdeckte er auf einem kleinen Tisch eine geöffnete Flasche Bourgogne. Er konnte es sich doch nicht entgehen lassen, den Rotwein aus seinem Lieblingsanbaugebiet, der Côte de Nuits, zu kosten, obwohl er schon so voll war wie ein Luftballon. Bereits am Bukett erkannte er, daß es sich um einen Qualitätswein handelte.
Ratamo war ein Weinkenner. Er hatte vor Jahren die Rolle des Kellermeisters übernommen, wenn Kaisas Gäste aus der vornehmen Gesellschaft zu Besuch
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