Finnisches Inferno: Kriminalroman (Arto Ratamo ermittelt) (German Edition)
Holm hörte aufmerksam zu. Sie wunderte sich, warum der Flugplatz nicht mehr Zürich-Kloten, sondern Unique hieß.
Die erste Maschine am Freitagmorgen war fast ausgebucht. Sie hatte ein teures Ticket der Business-Class kaufen müssen, aber in der kurzen Zeit nicht mehr als drei Gläser Champagner in sich hineinschütten können. Um ihre Nerven unter Kontrolle zu bringen, hätte sie jedoch ein paar Deziliter mehr gebraucht.
Sie hielt die Armlehne so fest, dass ihre Knöchel ganz weiß wurden, als die Reifen die Landebahn des Flughafens berührten. Die Maschine sprang noch einmal hoch, bremste und rollte schließlich im Schneckentempo zum Terminal. Trotz des morgendlichen Gedränges bekam sie ihre Koffer schnell und eilte durch die Passkontrolle ins Hauptfoyer des Flughafengebäudes. Die beiden großen Koffer, die sie am Vorabend gekauft hatte, gab sie in der Gepäckaufbewahrung ab, dann fuhr sie dieRolltreppe hinunter zum Bahnsteig des Schnellzugs. In zehn Minuten würde sie im Zentrum von Zürich sein.
Im Zug setzte sich Anna-Kaisa Holm auf einen Fensterplatz, obwohl sie wusste, dass ihr auch der Blick auf die Postkarten-Landschaft nicht helfen würde, sich zu entspannen. In Kürze würde sie spurlos verschwinden wie der Tau auf dem Gras. Es lag ihr schwer auf der Seele, dass sie Jussi Ketonens Vertrauen enttäuschte: Er hatte sie wie ein Vater angespornt und unterstützt. In einer E-Mail am Abend vorher hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie wegen der Erkrankung eines Verwandten nach Lieksa reisen müsse. Ketonen würde vielleicht versuchen, sie anzurufen, aber wohl kaum gleich am ersten Tag die Suche nach ihr einleiten, selbst wenn er keine Verbindung mit ihr bekäme. Niemand wusste etwas von ihrer Flucht, da war sich Holm ganz sicher.
Schlagartig wurde ihr die harte Realität bewusst: Sie konnte sich an niemanden wenden. Nur ein Mensch wäre imstande, ihr zu helfen, aber auch erst irgendwann in einer fernen Zukunft. Sie floh aus Finnland, dem Ort ihrer Familie und Freunde, ins Unbekannte. Sie war absolut allein.
Zürich lag von Hügeln umgeben da. Ein hoher Funkmast störte die Harmonie des Eigenheimviertels. Anna-Kaisa Holm setzte die Brille ab und fuhr sich mechanisch durchs Haar.
Der Zug traf im Hauptbahnhof auf Gleis sechs ein. Anna-Kaisa Holm lief unter den hässlichen Stahlkonstruktionen hindurch zur großen Eingangshalle. Die von vier Stahlsäulen getragene quadratische Mondaine-Uhr zeigte 09.47 Uhr. Am Rande der Halle von der Größe eines Fußballfeldes befanden sich Restaurants, und die Stirnseite schmückte eine prächtige sieben Meter hohe, dicke Frauenfigur in einem violetten Badeanzug. Der Luftballon hatte die Flügel eines Engels.
Anna-Kaisa Holm war zweimal in der Clariden-Bank gewesen, aber auf ihr Ortsgedächtnis und ihren miserablenOrientierungssinn konnte sie sich nicht verlassen. Ihren Freunden sagte sie oft scherzhaft, sie sei die amtierende Vorsitzende des Vereins der Finnen ohne Orientierungssinn, der eigentliche Vorsitzende fände nie den Weg zu ihren Versammlungen. Sie trat hinaus auf den Bahnhofquai, entdeckte den spitzen Kirchturm und erinnerte sich zu ihrer Überraschung sofort, dass sie nach rechts gehen musste. Hundert Meter weiter sah sie in der Mitte der Straße Springbrunnen, las auf einem Schild, dass sie sich auf dem Bahnhofsplatz befand, und erkannte den Anfang der Bahnhofstraße wieder. Jetzt würde sie den Weg zur Clariden-Bank finden.
In der Mitte der von leidend aussehenden Laubbäumen gesäumten Straße lagen Straßenbahnschienen. Anna-Kaisa Holm überlegte, ob die Bäume Linden waren. Die Kette der auserlesenen Geschäfte mit bekannten Namen riss nicht ab: Raymond Weill, Bally, Louis Vuitton, Chanel, Bruno Magli, Bulgari, Salvatore Ferragamo. Für einen Augenblick blieb sie vor dem Schaufenster des Schmuck- und Antiquitätengeschäftes La Serlas stehen.
Nach der Kreuzung Bärengasse sah sie am Ende der Bahnhofstraße den Zürichsee schimmern. Am Paradeplatz bog sie nach rechts ab und überquerte die Straße zwischen zwei Trams. Sie ging über den Talacker und eine kleine Brücke und erkannte schließlich auf der linken Seite die Claridenstraße und wenig später das hellblaue Gebäude der Clariden-Bank.
Die Detektoren öffneten die durchsichtige Schiebetür, und Holm betrat den Windfang. Nachdem die Überwachungskamera sie als ungefährlich eingestuft hatte, öffnete sich die zweite Schiebetür, und vor ihr lag das Hauptfoyer der Bank. In dem Meer von Marmor und
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