Finnisches Inferno: Kriminalroman (Arto Ratamo ermittelt) (German Edition)
erkundigte sich, was geschehen sei. Holm könne offen sprechen, sie habe sich keines Vergehens schuldig gemacht.
Holm antwortete nicht. Sie kniff ein paarmal die Augen zusammen, bemühte sich, so erschöpft wie möglich auszusehen, und fragte, wo sie sei.
Doktor Wessner sagte, sie befände sich in der Überwachungsstation der Poliklinik des Universitätsspitals Zürich.
Drogenkonsum war in der Schweiz also nicht verboten. Dann dürfte sie das Krankenhaus vielleicht verlassen, hoffte Anna-Kaisa Holm. Sie musste vor Swerdlowsk fliehen. Nach dem Rhythmus des Piepens zu urteilen, schlug ihr Herz offensichtlich schon ruhiger. »Kann man diesen Apparat abschalten?«, fragte sie und versuchte zu lächeln.
»Ich denke schon.« Die Ärztin nickte der Krankenschwester zu, die drei EKG-Elektroden von ihrer linken Seite und eine von jedem Schlüsselbein entfernte.
Anna-Kaisa Holm tat so, als würde sie einschlafen. Die Schweizerinnen unterhielten sich kurz, dann hörte sie, wie Doktor Wessner zu den Apparaten auf ihrer rechten Seite ging.
Als die beiden Frauen das Zimmer verließen, lauschte sie eine Weile, wie sich die Schritte entfernten und setzte sich dann auf. Für einen Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen. Warum war sie so naiv gewesen, einer russischen kriminellen Organisation zu vertrauen? Vor ihrer Anwerbung hatte man versprochen, sie zu nichts zu zwingen, doch je wichtiger dieInformationen wären, die sie lieferte, desto höher wäre ihr Honorar.
Dennoch glaubte sie, verschwinden zu können, ohne Spuren zu hinterlassen. Schließlich wusste sie viel mehr über die Ermittlungsmethoden der Polizei und die Suche nach Kriminellen als die meisten, die versuchten unterzutauchen. Vielleicht bekäme sie im Laufe der Zeit die Lage unter Kontrolle. Wer weiß, möglicherweise wurde ihr Verbindungsmann bei Swerdlowsk umgebracht.
Sie hielt sich am Kopfteil des Bettes fest und setzte die Füße vorsichtig auf den Boden. Zwar fühlte sie sich schwach, aber ihr wurde nicht schwindlig. Der Fußboden war kalt, und sie hatte keine Strümpfe. Sie nahm den Ständer, an dem der Tropf hing, und ging damit zu den Schränken auf der anderen Seite des Zimmers. Hinter den ersten Türen befanden sich Decken, Kissen, ein Kunststoffschieber und Metallgefäße. Sie seufzte vor Erleichterung, als sie im zweiten Schrank ihre Sachen entdeckte. Nun entfernte sie die Kanüle aus der Armbeuge, das tat weh. Auf dem Beistelltisch fand sich ein Wattebausch, sie drückte ihn auf die Wunde und klebte ihn mit Pflaster fest. Dann durchwühlte sie ihre Tasche so schnell wie möglich. Außer dem Geld fehlte nichts. Ihre Uhr zeigte Viertel nach eins. Sie war also etwa zwei Stunden bewusstlos gewesen. Ob die SUPO schon informiert war, wo sie sich befand?
Mühsam zog sie sich an und überlegte gleichzeitig, ob man sie wohl daran hindern würde, das Krankenhaus zu verlassen, wenn jemand auf dem Gang bemerkte, dass sie eine Patientin war. Vielleicht hatte die SUPO oder die Züricher Polizei verboten, sie vor einem Verhör gehen zu lassen.
Sie war gezwungen, Make-up aufzulegen, um die Pickel zu verdecken, denn sie musste wie eine Besucherin aussehen, nicht wie ein drogensüchtiger Teenager mit pickligem Gesicht. IhreHände zitterten so, dass sie sich kaum richtig schminken konnte. Ein Beta-Blocker hätte geholfen, aber den wagte sie nicht zu nehmen, weil sie nicht wusste, wie er in Verbindung mit den anderen Medikamenten wirken würde. Endlich einmal war sie glücklich über ihre Bubikopffrisur. Die schnurgeraden Haare sahen immer ordentlich aus.
Rasch setzte sie die Brille auf, hielt das Ohr an die Tür und hörte das gedämpfte Geräusch von Schritten, das immer leiser wurde. Vorsichtig schaute sie hinaus. Auf der rechten Seite ging der Flur endlos weiter, aber links sah sie zehn Meter entfernt eine Art Foyer. Und Menschen ohne weißen Kittel oder Schlafanzug. Dort musste sie hin.
Anna-Kaisa Holm bemerkte, dass sie schwankte. Sie brauchte schnell einen Platz in einem Zug oder ein Hotelzimmer, wo sie sich verstecken und ausruhen konnte, bis sie Hilfe bekam. Alles andere war jetzt völlig egal. Aber es gab ja auch gar nichts anderes. Sie hatte ihr bisheriges Leben aufgekündigt, und ein neues existierte noch nicht. Und würde vielleicht auch nie existieren …
Plötzlich erblickte sie eine Krankenschwester und erschrak so, dass sie fast gestolpert wäre. Die wildfremde Frau wandte sich ihr zu und grüßte sie freundlich.
Unten im Foyer beachtete man sie
Weitere Kostenlose Bücher