Finnisches Quartett
zunächst im Radius von einem Kilometer, dann von einem halben Kilometer umkreist, und der dritte Kreis, den er eben geschlossen hatte, war noch etwa zweihundert Meter von dem Gebäude entfernt. Die Polizei überwachte das Haus des Verräters nicht, es war also möglich, daß man seine Absichten noch nicht kannte. Er witterte dennoch den widerwärtigen Gestank der Gefahr, alles schien zu funktionieren, aber ein bißchen zu gut. Auch die Farben kündigten die Gefahr an; schon jetzt schoß ihm das Rot durch den Kopf, das Gelb und Orange vermischten sich zu einem grellen Wirrwarr. Die Gerüche und Farben, die er mit seinen Sinnen spürte, waren jedoch schon bedeutend schwächer als vorgestern, vor dem Beginn der Veränderung.
Sein Atem beruhigte sich schnell, und sein Hirn registrierte die Umgebung, aber die Gedanken schweiften ab. Als er früh am Morgen eingenickt war, hatte er zum wiederholten Male einen Traum vom Berg Croagh Patrick gehabt, von einem Mönch und dem Engel der Offenbarung. Das mußte etwas zu bedeuten haben. Die Erinnerung an den Ausflug zum Croagh Patrick mit der Frau, die Papierengel ausgeschnitten hatte, tauchte wieder vor Ezrael auf, das war Eamons liebste Erinnerung, die er ganz tief in sich eingeschlossen hatte. Die Mutter hatte nach dem Ausflug nur noch ein Jahr gelebt.
Ezrael drückte sich eng an den Stamm der Kiefer mitten in dem lichten Wäldchen und richtete das Fernglas auf den Hof des Hauses, der in der Morgensonne lag. Die Familie des Verräters schien oft Zeit in ihrem Patio zu verbringen, denn auf dem Tisch der Terrasse lagen auch jetzt Teller und Besteckteile herum, und der Deckel des Gasgrills stand offen.
John Dexter wohnte mit seiner Familie im Vorort Bethesda, dreizehn Kilometer nordwestlich von Washington D. C. In Nordirland hätte man das Gebäude aus braunen Ziegeln mit seinen zwei Stockwerken und dem Giebeldach für das Haus eines Gutshofes gehalten, aber hier galt es wohl nur als etwas größeres Eigenheim. Es war gefährlich, sich dem Objekt zu nähern, denn das Haus wurde in einem Radius von hundert Metern von offenem Rasengelände umgeben, das nicht den geringsten Sichtschutz bot.
Unmöglich war es jedoch nicht, das Ziel zu erreichen, und das genügte Ezrael. Hier würde er seine Rache ausführen. Es war sein Glück, daß der Verräter Dexter nicht in einem scharf bewachten Wohnhaus des Staates lebte wie einige der Spitzenbeamten. Er durfte keinen einzigen Fehler begehen, und das würde auch nicht geschehen. Er wußte schon, wie er vorgehen würde.
Plötzlich tauchte auf dem Hof ein Sicherheitsmann im dunklen Anzug auf, aus dessen Ohr die Leitung eines Knopfhörers unter den Kragen der Jacke führte. Ging der Verräter so früh zur Arbeit? Ezrael hörte ein surrendes Geräusch und sah den Rand der Garagentür, die sich hinter dem Haus öffnete. Er eilte gebückt durch das Wäldchen, um in die Garage hineinblicken zu können. Vor dem Haus stand ein zweiter Wächter. Ezrael richtete sein Fernglas auf die Garage und sah neben dem Verräter zwei Wächter und zwei Autos, deren Motoren schon liefen, mit den Fahrern waren es also insgesamt sechs Sicherheitsleute. John Dexter blickte in die Sonne, beugte sich vor und stieg ein.
Ezrael schloß die Augen, er hatte den Verräter gesehen, doch das löste nur eine schwache Reaktion aus.
»Heutigestages wird dich der HERR in meine Hand überantworten, daß ich dich schlage und nehme dein Haupt von dir und …«
Er wußte, daß diese Rache schwieriger werden würde als jede andere vorher. Er hatte keine Angst vor einem Mißerfolg,im Gegenteil, in gewisser Weise wartete Ezrael voller Interesse auf seinen eigenen Tod. Manchmal träumte er davon, einen wirklichen Test bestehen zu müssen und auf eine Art sterben zu dürfen, bei der sich zeigen würde, aus welchem Holz er geschnitzt war. Wenn sich ihm solch eine Gelegenheit böte, würde er sich wie ein stiller und demütiger Märtyrer verhalten. Wie einer der namenlosen Urchristen, die bei den Verfolgungen in Rom oder im Kolosseum gelitten hatten. Solche Märtyrer, die völlig Selbstlosen, hob der Meister am allerhöchsten. Solche wie Eamon. Ezrael spürte bereits Gefühle, die Eamon gehörten: Einsamkeit und Angst, und jetzt begann er sich schon nach seiner Schwester zu sehnen. Er erinnerte sich auch daran, wie Mary mit dem Riemen Prügel bekommen hatte, als sie den Soldaten daran hindern wollte, Eamon diese grausamen Dinge anzutun.
Er wartete noch ein paar Minuten und rannte dann
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