Finnisches Quartett
gelesen«, sagte er, so als wolle er sich entschuldigen.
Nelli schlich sich auf dem Parkettfußboden lautlos an ihren Vater an und wollte ihn gerade mit einem lauten Ruf erschrecken, da drehte sich Ratamo um und spritzte dem Mädchen Schlagsahne auf die Nase. Es kam zu einer Balgerei, die erst aufhörte, als Ratamo seine Tochter hochhob und auf die Bank setzte.
Ketonen lächelte. »Die Erfindung eines funktionsfähigen Fusionsreaktors wird auch die ganze Weltwirtschaft revolutionieren. Dank der kostenlosen Energie steigt der Lebensstandard in den Entwicklungsländern, viele von denen, die heute über Wirtschaftsmacht verfügen, werden eingehen, da der Preis des Öls abstürzt, und wer weiß, wie viele Ölkonzernevon der Liste der zehn weltgrößten Unternehmen verschwinden.«
»Und womit hängt das nun zusammen?« fragte Ratamo, während sich Nelli mit einem Kichern aus seiner Umarmung befreite.
»In Europa sind innerhalb eines halben Jahres drei Physiker gestorben, alle Pioniere auf irgendeinem speziellen Gebiet der Fusionsforschung.« Ketonen wählte seine Worte mit Bedacht, da Nelli zuhörte. »Jetzt hat man in der Nähe des Hotels Lord den vierten Physiker gefunden, den Finnen Hannu Elvas. Du kannst dir sicher denken, daß der Fall die Behörden überall in Europa interessieren wird.« Ketonen wirkte nachdenklich.
Ratamo schüttelte den Kopf und ahnte Schlimmes. Das roch nach der nächsten Ermittlung.
»Wie wäre es, wenn du mal kurz im Lord vorbeischaust«, schlug Ketonen vor. »Das könnte die letzte Ermittlung in meiner Zeit werden. Liimatta kommt auch erst Ende der Woche von der Konferenz in Brüssel zurück.« Seppo Liimatta, der Chef der Antiterroreinheit, war Ratamos unmittelbarer Vorgesetzter.
»Am Abend des Maifeiertages, nach ein paar Bier und Calvados?« protestierte Ratamo.
»Komm, wir machen noch mal etwas zusammen«, appellierte Ketonen an Ratamo, obwohl auch ein einfacher Befehl genügt hätte.
Nelli wirkte enttäuscht. »Wieder muß jemand auf Arbeit, wenn’s gerade mal schön ist«, schimpfte sie und schlurfte demonstrativ aus der Küche.
Ratamo wetterte eine Weile, versprach dann aber, ins Lord zu gehen. Das Eishockeyspiel war längst vorbei und erledigt, und der Abend würde in jedem Fall ruhig werden. Vielleicht blieb noch Zeit, um auf dem Rückweg mit Ilona im Seahorse vorbeizuschauen und ein Bier zu trinken. Eineso ungewöhnliche Frau wie Ilona war Ratamo noch nie über den Weg gelaufen, es tat gut, zu wissen, daß für manche Menschen das Leben nicht aus Leistungsdruck und kleinbürgerlichen Zwängen bestand.
Ratamo teilte seinen Gästen mit, daß er gehen müsse, bestellte ein Taxi, zog den Sommermantel an und schnappte sich die Kautabakdose, die im Flur auf dem Spiegeltisch lag. Nachdem Marketta ihm auf seine Bitte hin versprochen hatte, daß sie und Ketonen nicht eher gehen würden, bevor er wieder zu Hause war, rannte Ratamo die Treppen hinunter auf die Straße.
7
Das Zentrum von Amsterdam sah aus wie nach einer Straßenschlacht: Überlall lagen Unmengen von Müll herum, Kleidungsstücke, Möbel, leere Flaschen, Bierbüchsen, Spielzeug. Verwundete sah man jedoch nicht, nur Touristen mit roten Augen und betrübter Miene und Einheimische, die Bewegung an der frischen Luft suchten. Vom Karnevalstreiben des gestrigen »Tages der Königin«, des alljährlich stattfindenden größten Festes in Amsterdam, waren nur die erbärmlichen Folgen übriggeblieben. Die Zäune, mit denen die Rasenflächen vor den Hunderttausenden feiernden Menschen geschützt wurden, standen immer noch da, und Hunderte Verkaufsstände warteten darauf, daß man sie abbaute. Am »Tag der Königin« brauchten die Straßenhändler für das, was sie verkauften, keine Steuern zu zahlen, so daß alles, was Beine hatte, am Straßenrand seinen Stand aufbaute, wobei einer wackliger aussah als der andere.
Die dunkelroten Haare rahmten Mary Cashs schmales Gesicht, ihre Haarspitzen pendelten im gleichen Rhythmus auf ihren Schultern wie die Zigarette in ihrem Mundwinkel.Sie überquerte den Dam-Platz, ging in Richtung Keizersgracht und schaute hinüber zum Königsschloß im Licht der Abendsonne und zu den Glasmalereien am Querschiff der Nieuwe Kerk. Der Wind schien noch stärker zu werden.
Jaap van der Waal, der Leiter des Konsortiums, hatte Mary kurzfristig, vor ein paar Stunden, um ein Treffen gebeten. Das bedeutete, daß es schlechte Nachrichten gab, in der Regel plante van der Waal die Begegnungen mit neurotischer
Weitere Kostenlose Bücher