Finnisches Quartett
hatte die von Wahnsinn zeugenden Aufzeichnungen, die sie in Ezraels Evangelium gelesen hatte, ausgenutzt und die Phantasiekonstruktion ihres Bruders so ergänzt, daß sie davon profitierte: Sie war ihm als jener Bote erschienen und hatte ihm vorgelogen, daß sie das dritte Geheimnis der Fatima kannte. Ezrael und Millionen andere Gläubige hatten jahrzehntelang Vermutungen über den Inhalt der Offenbarung angestellt, die ein kleines portugiesisches Mädchen in der Stadt Fatima 1917 von der Jungfrau Maria empfangen hatte. Mary hatte ihrem Bruder gegenüber behauptet, Verräter, die im Auftrag der katholischen Kirche arbeiteten, hätten den Gläubigen die Wahrheit über zwei heilige Schriften, die Petrus-Offenbarung und das Thomas-Evangelium, verheimlicht, und Ezraels Aufgabe sei es,die Verräter zu töten, die sie, Mary der Bote, ihm nannte. Ezrael nahm den Auftrag mit verblüffendem Eifer an; in der Welt eines Wahnsinnigen war alles möglich.
Mary erreichte die Straße an der Keizersgracht. Auf dem Kanal trieben höchst merkwürdig aussehende Boote, die meisten von ihnen schien nur die Willenskraft ihres Besitzers über Wasser zu halten. Das im Barockstil errichtete Hotel Canalhouse war schon zu sehen. Mary blieb stehen und schaute auf die Uhr: Fünf vor sieben, sie hatte noch einige Minuten Zeit, um sich zu konzentrieren. Jaap van der Waal widerte sie an, oder besser gesagt, sie verachtete ihn. Der Mann war ein schlaffer, fauler und überheblicher Unterdrücker. Genau so wurde ein Mann durch das Geld. Oder durch ein anderes Mittel, mit dem man Macht ausübt; jeder der Männer, die sie kannte, schien ein Mittel zu besitzen, mit dem er Frauen unterdrücken konnte.
Van der Waal erwartete Mary im Restaurant des Hotels zusammen mit seinem großgewachsenen Gehilfen, der an einen Marder erinnerte. Mary wußte es nicht mehr genau, aber der Lakai hieß wohl Pieter. Der Saal war mit wertvollen Antikmöbeln ausgestattet und paßte zu van der Waals Stil. Er wollte sich nie draußen treffen, weil die Überwachung dann zu viele Sicherheitsleute erfordert hätte, und am Telefon redete er nicht gern über Hinrichtungen. Van der Waal war krankhaft mißtrauisch. Natürlich wurde Mary vor jedem Treffen durchsucht, diesmal erledigte Pieter das auf der Treppe des Hotels.
Mary setzte sich neben ihren Auftraggeber vor den Kamin und warf ihm erst einen Blick zu, als der Kellner kam, um seine Bestellung entgegenzunehmen. Van der Waals Gesicht war hochrot, noch deutlicher als sonst, und seine spärlichen, öligen Haare, die auf dem Schädel klebten, suchten einander. Der Mann saß in einem Sessel vor dem mit Glasmalereien geschmückten Fenster, trank Genever aus einemzierlichen Kristallglas und wirkte zufrieden, ja fast glücklich. Mary wurde bei dem Anblick beinahe übel: Van der Waal repräsentierte das Groteske und die Dekadenz, in seiner Welt gab es anscheinend nur den Genuß, für irgendwelche Sorgen war da kein Platz. Das Gesamtbild wurde von einem psychopathischen Papillon gekrönt, der im Schoße seines Herrchens kläffte.
»Alstublieft«,
sagte der verblüffend schnelle Kellner, und Marys Gin Tonic wurde neben den silbernen Aschenbecher auf den lackierten Mahagonitisch gestellt. Mary drückte ihre Zigarette aus und zündete sich eine neue an.
»Wußten Sie, daß der Gin ursprünglich von diesem holländischen Genever abstammt?« fragte van der Waal freundlich auf englisch und hob sein Glas. Mary schüttelte den Kopf.
»Im 17. Jahrhundert haben wir angefangen, ihn nach England auszuführen, und während der Zeit von Wilhelm dem Oranier am Ende des Jahrhunderts wart ihr dann ganz verrückt danach.« Van der Waal bemerkte nicht, wie es in Marys Augen blitzte, als er sie mit den Engländern gleichsetzte.
»Genever ist ein aus Gerste und Roggen destillierter Branntwein, in den als Gewürz Wacholderbeerensaft gegeben wird. Das Wort für Wacholderbeere war seinerzeit auf französisch
Genèvre
. Als diese auch in England als Gewürz bekannt wurde, begann man dort, aus destilliertem und mit Wacholderbeeren gewürztem Branntwein Gin herzustellen.«
Mary nickte, obwohl die Geschichte des Genever sie nicht im geringsten interessierte.
»Das Getränk war vor allem bei Soldaten beliebt. Im 17. Jahrhundert wurde es vor einer Schlacht den englischen Soldaten gegeben, um ihnen Mut zu machen. Sie bezeichneten den Genever als ›Holländischen Mut‹«, sagte van der Waal mit Stolz in der Stimme.
»Warum wollten Sie mich treffen?« fragte
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