Finnisches Quartett
Zumindest aus Meijendel konnte sie also fliehen. Die Sonne erhitzte den Kofferraumdes schwarzen Autos schnell, Ulrikes Lider wurden schwer. Schließlich schaffte sie es nicht mehr, gegen den Schlaf anzukämpfen, er kam, nahm sie mit und brachte sie in Sicherheit.
11
Mit dem Rucksack auf dem Rücken ging Ezrael im Herzen des Rotlichtviertels am Ostufer des Oudezijds-Voorburgwal-Kanals entlang. Auch an diesem Morgen waren auf den Straßen Amsterdams noch die Spuren des »Tages der Königin« zu sehen, man konnte den trüben Gestank der Lasterhaftigkeit immer noch riechen.
»Denn der Tod ist der Sünde Sold …«
Er blieb vor einem im 17. Jahrhundert aus Ziegeln errichteten vierstöckigen Haus stehen und schaute hinauf. Einst wurden die Möbel und die im Dachgeschoß gelagerten Waren mit Flaschenzügen hochgehievt, deshalb waren die auf Holzpfählen errichteten Häuser ein wenig zum Kanal hin geneigt, damit die am Seil schwingenden Gegenstände die Fassade nicht beschädigten. Das hatte ihm der Bote erzählt. Ezrael zuckte zusammen, als er im Sockel des Gebäudes eine zugemauerte Kellerluke sah. Sie erinnerte ihn an das kalte, feuchte, dunkle LOCH im Keller, in das ihn der Soldat damals immer dann einsperrte, wenn er etwas falsch gemacht hatte, und nicht nur dann.
»Hoe gaat het ermee?« fragte an der für Amsterdam typischen dunkelgrünen Haustür die Oma aus dem Erdgeschoß und schaute freundlich in die fröhlichen Augen des blonden jungen Mannes.
Ezrael zauberte sein Schwiegersohngesicht herbei und sah, wie der Mund und die Augen der alten Frau lächelten. »Heel … goed, dank u«, erwiderte er stockend, das war eine der Höflichkeiten, die er sich auf niederländisch eingeprägthatte. Dann trat er ins Haus und stieg die Treppen hinauf bis ins Dachgeschoß. Bis in die Kirche.
Die obszöne Frische des Frühlingsmorgens stieg ihm in die Nase, deshalb schloß er die hölzernen Läden der Fenster zum Kirchen-Kanal. Die durfte man nur dann offenlassen, wenn man die Bestie mit dem Anblick der Prostituierten, Drogensüchtigen und anderen Sünder oder des gotischen Teufels, der katholischen Kirche Oude Kerk, die drohend auf der anderen Seite des Kanals stand, füttern mußte. Sie war schön anzusehen, wie so viele andere innerlich verdorbene Dinge. Manchmal, wenn es in der Stadt ruhiger war als gewöhnlich und der Wind aus der entsprechenden Richtung wehte, konnte Ezrael den Klang der massiven Vater-Müller-Orgel von Oude Kerk hören. Dann ließ sich die Bestie nur schwer im Zaum halten.
»Tue nur weg von mir das Geplärr deiner Lieder!«
Ezrael zog seine Sachen aus, schlüpfte in den Kamelhaarumhang, legte einen Ledergürtel an und war sich dabei seines Auftrags immer sicherer, so wie einst Johannes der Täufer. Auch er war ein Prediger in der Wüste. Er fühlte, daß er ins Königreich der Himmel zurückgekehrt war, das sich in ihm befand, genau wie es im Thomas-Evangelium gesagt wurde. Die Bestie wurde unruhig, als sie Ezraels Gedanken vernahm.
Er holte das Evangelium aus seinem Rucksack, legte es bedächtig auf den Altartisch mitten im Kirchensaal neben das in Leder gebundene Große Buch und suchte seine Eintragung vom 6. März 1994. »Die katholische Kirche hat uns die Wahrheit über das Thomas-Evangelium verheimlicht, seit es 1945 in Ägypten in Nag Hammad gefunden worden war. Der Text, der die früheste Tradition der Urchristen verkündet, müßte mehr Wertschätzung erfahren als die Evangelien des Neuen Testaments. Doch das wagt die katholische Kirche nicht, weil das Thomas-Evangelium dieNotwendigkeit der ganzen Institution Kirche in Abrede stellt.«
»Wer von meinem Mund trinkt, wird werden wie ich, und ich werde wie er, und die verborgenen Dinge werden sich ihm offenbaren.«
Ezrael las die heiligen Worte. Wenn dem Thomas-Evangelium der Wert beigemessen würde, der ihm zustand, würde es die Hierarchie der Kirche zerschmettern, denn aus dem Schüler würde ein Lehrer und aus dem Lehrer würde ein Schüler werden.
»Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister«,
murmelte Ezrael. Die katholische Kirche würde in sich zusammenbrechen, wenn die Sünder das Thomas-Evangelium als Wahrheit anerkennen würden. Jedes der Worte, die er in das Evangelium notiert hatte, war noch genauso wahr wie vor Jahren, dachte Ezrael voller Stolz. Er drückte die Fäuste in die Augenhöhlen und lächelte.
Ezrael schaltete das Deckenlicht der Kirche aus und zündete an der Kerzenwand vierzig Kerzen
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