Finnisches Quartett
an, eine für jeden Tag, an dem der Teufel den Meister in der Wüste in Versuchung geführt hatte. Schon bald befand sich auch die Welt der Gerüche im vollkommenen Gleichgewicht. Als das Licht von den Engelsgemälden reflektiert wurde, spürte Ezrael, wie er mit dem Auftrag verschmolz. Alles wurde blaugrün, er fühlte sich ruhig, aber voller Energie, fast vollkommen. Alles war gut, auch die Bestie schlief nun.
Voller Bewunderung betrachtete Ezrael seine Altarwand: Als Altarbild hing dort eine Kopie der »Verkündigung an Maria« von Fra Angelico, links davon glitzerte ein großes silbernes Kruzifix, und rechts schimmerte das irische Keltenkreuz. Zorn packte ihn, als er auf dem Altarbild den kleinen Einriß in der Wange des Engels sah.
Die dritte Wand des Kirchensaals nannte Ezrael die Engelwand. Neben den Fresken von Fra Angelico mit Engelsmotiven hing dort eine eindrucksvolle Sammlung vonKopien der Zeichnungen des genialen Bibelillustrators Gustave Doré: »Ein Engel erscheint Josua«, »Jakob ringt mit einem Engel«, »Abraham und die drei Engel«, »Ein Engel füttert Elia«, »Ein Engel erscheint Bileam«.
Ezrael beschloß, sich zu waschen. Er zog sich aus und betrat die enge Duschkabine des Badezimmers. Als er sich vorstellte, daß sich die Tropfen, die aus der Dusche herabplätscherten, in das heilige Wasser des Jordans verwandelten, bekam er eine Gänsehaut. Wie immer nach dem Racheakt fühlte er sich leer und müde, und das Wasser brannte auf den Peitschenstriemen. Ezrael trocknete sich an seinem Kamelhaarumhang ab, sein Blick fiel auf den Spiegel, und er lächelte seinem eigenen Kindergesicht zu. Er hatte sich wieder an einem gerächt, der die Wahrheit zu verheimlichen suchte.
»Und ein Feuerbach fließt, und es zieht herunter alle Gerichteten mitten in den Bach.«
Das Telefon schrillte, und Ezrael schrak zusammen. Er durfte sich nicht melden, denn der Anruf war ein Zeichen vom Boten, vom einzigen Menschen, der den Engel des Zorns kannte. Alle anderen Verbindungen zur Welt des Bösen hatte er schon vor Jahren auf Anraten des Meisters abgebrochen: »…
e in jeglicher unter euch, der nicht absagt allem, was er hat, kann nicht mein Jünger sein.«
Es vergingen nur ein paar Minuten, dann öffnete der Bote die Tür der Kirche mit einem eigenen Schlüssel. Die roten Haare waren zum Pferdeschwanz gebunden, der hin und her schwang, und das schmale Gesicht wirkte noch ausgezehrter als sonst. Ezrael freute sich, als er den Boten sah und das vertraute Tabakaroma roch, er hoffte, schon heute den Namen des nächsten Verräters zu erfahren.
Mary Cash ließ ihre Schultertasche auf den Fußboden fallen, umarmte ihren Bruder, streichelte seine noch feuchten blonden Haare und drückte einen Kuß auf seinen verstümmeltenZeigefinger. Warum gehörte das einzige vollkommen ehrliche Männergesicht auf der Welt ihrem Bruder? In Ezraels Augen lebte die Freude, der keine Frau widerstehen könnte. Sie bemerkte die roten Striemen in seinem Genick und ärgerte sich einmal mehr, daß sie nicht imstande war, dem Geißelritual ihres Bruders ein Ende zu setzen. Auch das bewies, daß sie Ezrael nicht gänzlich unter Kontrolle hatte.
Manchmal bekam Mary Angst vor Ezraels Intelligenz, oder vielmehr vor dem Moment, wenn Ezrael seinen Verstand auf eigene Faust gebrauchte. Ihr Bruder war in der Lage gewesen, aus seinen Phantasien ein verblüffend kompliziertes und harmonisches Universum zu errichten, insofern man etwas, was im Kopf eines Verrückten vor sich ging, harmonisch nennen konnte. Das Thomas-Evangelium, die Petrus-Offenbarung und selbst die Geheimnisse von Fatima hatte Ezrael ganz allein gefunden. Mary hatte das Gedankengebäude ihres Bruders nur insoweit für ihre eigenen Zwecke ergänzt, als sie sich für das dritte Geheimnis von Fatima einen Inhalt ausgedacht hatte, der bewirkte, daß Ezrael ihre Mordbefehle ausführte.
Aufmerksam ging Mary durch die Zweizimmerwohnung und schaute sich um. Alles sah genauso aus wie immer, aber das schmale Bett im asketischen Schlafraum war nicht gemacht. Sie kontrollierte, ob sich die Beweise gegen van der Waal und John Dexter in ihrem Versteck tief hinten im eingebauten Kleiderschrank befanden, und blieb dann vor der Engelwand stehen. Die Posterbilder machten sie immer verlegen. Es ließ sich leicht verstehen, warum ihr Bruder sie so verehrte; die von der Mutter ausgeschnittenen Papierengel klebte Ezrael zwar nicht an die Wand, aber er hatte sie alle aufgehoben. Auch das wußte Mary
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