Finnisches Quartett
aus seinem Evangelium.
Mary setzte sich auf den ungestrichenen Holzstuhl imWohnzimmer und betrachtete ihren Bruder in seinem Umhang. In gewisser Weise war sie stolz auf ihre Schöpfung. Auf Marys Befehl hatten Soldaten und Sprengstoffspezialisten der Wahren IRA, die in Spezialeinheiten verschiedener Staaten militärisch ausgebildet worden waren, Ezraels militärische Fähigkeiten vor dem ersten Mord an einem Physiker monatelang geschult. Dieselben IRA-Mitglieder hatten um die Jahrtausendwende auch Guerillas der kolumbianischen FRAC und im Jahre 2003 palästinensische Terroristen ausgebildet. Mary hatte sogar einen Psychiater, der die IRA seit Jahrzehnten unterstützte, dafür bezahlt, daß er sich mit Ezrael unterhielt. Sie wollte sich vergewissern, daß sie ihren Bruder in jeder Situation unter Kontrolle hatte.
Besonders stolz war Mary jedoch auf sich selbst. Sie war einer der Gründer der Wahren IRA, der zweihundert letzten wahren Republikaner, die immer noch mit allen Mitteln die Briten aus Nordirland hinausjagen wollten und mit Leib und Seele Widerstand gegen den Friedensprozeß in Nordirland leisteten. Es kam ihr immer noch wie eine Ironie des Schicksals vor, daß ihr Vater die Provisorische IRA mitgegründet hatte und sie die Wahre IRA.
Ezrael murmelte Sätze aus der Bibel und schrieb konzentriert etwas in sein Evangelium. Mary grinste, sie hatte ihren Bruder zum perfekten Sündenbock gemacht. Ezrael wäre nicht imstande, irgend etwas Vernünftiges über die Hintergründe der Morde an den Physikern zu sagen, selbst wenn man ihn jahrelang verhören würde. Und die Informationen über den Bruder selbst waren so gründlich beseitigt worden, daß die Polizei von Ezrael nicht einmal ein Foto finden würde. Freunde hatte er nicht, sie waren einer nach dem anderen verschwunden, als der Vater seinen Sohn wegen des Vorfalls in der Shankill Road eingesperrt hatte.
»Ist der Engel des Zorns zufrieden?« fragte Mary.
»Es gibt einen Verräter weniger«, antwortete Ezrael indem starken nordirischen Dialekt, der immer dann aus den Tiefen seines Gedächtnisses auftauchte, wenn er den Boten traf.
»Die Verschwörung und die Wahrheit werden bald enthüllt, du mußt noch ein Weilchen durchhalten. Das Tempo wird jetzt beschleunigt, diesmal bekommst du zwei Verräter.«
Ein Lächeln zog über Ezraels Gesicht. Natürlich sorgte der Allerhöchste für die Seinen, vor allem jetzt, da der Johannistag und sein eigener vierunddreißigster Geburtstag immer näher rückten.
Mary und Ezrael gingen an den Altartisch. Zunächst beschrieb Ezrael detailliert, wie der Verräter in Helsinki gestorben war, dann berichtete Mary von den zwei Verrätern, die bei Future.com arbeiteten.
Sie planten gemeinsam die Rache, wie schon so oft, und vertieften sich in die Arbeit. Die Leute von Future.com mußten schon heute liquidiert werden und dazu noch in Ezraels Wohnort Amsterdam, Risiken gab es also genug. Das bereitete Mary Sorgen. Sie hatte zuviel Mühe darauf verwendet, Ezrael für ihre Zwecke zu formen, und wollte nicht, daß ihre Schöpfung durch einen überstürzt vorbereiteten Anschlag in Gefahr geriet.
Als der Plan ausgearbeitet war, wiederholten sie ihn so oft, daß Ezrael selbst die geringfügigsten Einzelheiten auswendig kannte.
Ezrael stand auf und wechselte die heruntergebrannten Kerzen aus, während Mary überlegte, warum er beim bevorstehenden Anschlag so eine seltsame Waffe einsetzen wollte. Zuweilen überraschte sie die Fähigkeit Ezraels, Menschen zu manipulieren. Wenn ihr Bruder wie ein normaler Mensch auftrat, erreichte er, daß alle ihn oder zumindest seine Sicherheit achteten. Ezrael wirkte auf die Menschen wie ein Staatsoberhaupt, das äußerst genau wußte, was eswollte und wie es zu erreichen war. Ihr Bruder strahlte Sicherheit aus, die Gewißheit des Erfolgs. Manchmal bekam Mary Angst, daß Ezrael sich verrückter gab, als er war. Oder sie fürchtete, es könne sich herausstellen, daß er zu klug für ihre Zwecke war, wie das Geschöpf ihrer Namensvetterin Mary Shelley. Oder daß Ezraels angeborene Grausamkeit dazu führte, daß er einen Fehler beging. Sie erinnerte sich nur zu genau, wie Ezrael mit zehn Jahren nachts ein scharfes Schlachtermesser unter die Bettdecke seiner Patentante, die bei ihnen zu Besuch war, gesteckt und dann im Dunkeln gewartet hatte, bis die Frau schließlich von den Schmerzen erwachte und sich die Lunge aus dem Leibe schrie.
Bevor Mary ging, war noch das übliche Ritual an der Reihe. Die
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