Finnisches Quartett
wo befand sie sich? Irgendwann hatte sie den Zuider-Kanalund den Noorder-Kanal überquert, aber nachdem sie am Rijksmuseum vorbeigegangen war und sich in den kleinen Gassen versteckt hatte, war ihr Orientierungssinn durcheinandergeraten. Sie hatte Lust, in irgendein Kaufhaus oder ein öffentliches Gebäude hineinzugehen, um zu warten, bis es aufhörte zu regnen, aber möglicherweise wurde sie schon gesucht. Der Schock und die Trauer angesichts von Glorias und Scotts Tod saßen tief, aber Ulrike zwang sich, das Gefühl zu betäuben. Sonst wäre sie wie gelähmt.
Irgendwo in der Nähe ließ ein Flußschiff sein Signalhorn ertönen. Ulrike bog an der Straßenecke ab und sah vor sich durch den Regen und den Nebel die Brücke Magere Brug und die Amstel, den Fluß mit seinem lebhaften Schiffsverkehr. Bis hierher war sie gekommen, so weit weg vom WTC. Der Kopf schien ihr zu zerspringen von all dem Druck. Was zum Teufel war vor dem WTC geschehen, wer war der wahnsinnige Mann mit dem Schwert, der Gloria und Scott umgebracht hatte? Warum hatte man sie getötet? Der haßerfüllte, stechende Blick des Mannes tauchte wieder auf ihrer Netzhaut auf. Wohin sollte sie jetzt fliehen, was sollte sie tun? Ihr kam der Gedanke, aufzugeben und zur Polizei zu gehen, aber sie wollte Lasses Vertrauen nicht enttäuschen. Lasse hatte schließlich seine Freiheit für sie geopfert. Die Sehnsucht war als Schmerz im ganzen Körper zu spüren. Ganz in der Nähe bog eine blau-weiße Straßenbahn ab; das Quietschen der Räder schmerzte in ihren Ohren.
Sie mußte sich zusammenreißen. In irgendeinem Motel im Rotlichtviertel, wo es genügte, statt eines Passes ein paar Euroscheine vorzulegen, würde sie sich unter der heißen Dusche entspannen und in aller Ruhe über ihre Lage nachdenken. Sie durfte das Wichtigste nicht vergessen, ihre Aufgabe. Final Action durfte nicht zerstört werden.
Einer Eingebung folgend, bog Ulrike in eine leereschmale Gasse ein und ging zum Ufer der Amstel. Sie wunderte sich über die große Zahl Fahrräder, die auf der Straße standen. Plötzlich packte irgend etwas sie im Genick. Sie schrie auf, erst vor Schreck, dann vor Schmerz. Sie wurde auf das regenglatte Kopfsteinpflaster geworfen und hörte hinter sich die dumpfen englischen Worte:
»Du gibst mir meine Feinde in die Flucht, daß ich meine Hasser verstöre.«
Ulrike wandte sich mit erhobenen Fäusten um und starrte entsetzt in die Augen des Mörders von Gloria und Scott. Nun würde sie sterben. Ihr Leben lief nicht als Film vor ihr ab, und auch das Blut in ihren Adern floß nicht weiter, alles stand still. Sie erkannte das Gesicht des Wahnsinnigen sofort, aber jetzt glühten seine Augen nicht vor Haß: Sie strahlten Wärme und Frieden aus, auch Müdigkeit. Ulrike war noch verwirrter, als der Mann vorsichtig lächelte und seine kindliche Miene ihn aussehen ließ wie einen Jungen, der sich verlaufen hatte.
Ezrael spürte, wie die Freude ganz tief in ihn eindrang. Die rot leuchtende kleine Narbe auf dem Backenknochen der Frau glich tatsächlich vollkommen dem eingerissenen Dreieck auf der Wange des Engels auf seinem Altarbild. Das war kein Zufall: Ulrike Berger war der auf dem Altarbild seiner Kirche abgebildete Engel der Offenbarung. Die Haare, das Profil der Nase … alles stimmte. Ezrael badete im Glanze des Lichts, es erfüllte ihn über jedes verständliche Maß hinaus, so wie von Zeit zu Zeit die Bestie.
»Welche Offenbarung bringst du?« fragte Ezrael mit weicher Stimme, ohne seinen nordirischen Akzent und seine Neugier zu verbergen. Hing dies schon mit seinem vierunddreißigsten Geburtstag zusammen, kündigte der Engel der Offenbarung den Jüngsten Tag an?
Ulrike verstand überhaupt nichts mehr. Glaubte der Mörder, sie zu kennen? Seine Art zu sprechen hatte etwas Biblisches. Sie hatte in der Kirche von Erzberg so vieleSonntagvormittage verbracht, daß sie diese Sprache mühelos erkannte. Sie mußte versuchen, ihn zu täuschen, einen Verrückten darf man nicht verärgern, man muß sich bemühen, es ihm recht zu machen, sagte sich Ulrike immer wieder. »Meine Offenbarung hängt mit dir zusammen. Wenn du derjenige bist …?«
Ezrael war erstaunt, daß die Frau es nicht wußte. »Ich bin Ezrael, der Engel des Zorns.« Zweifel beschlichen ihn. Ezrael beugte sich der Frau zu und schnupperte den Geruch, der ihn an den Boten erinnerte, obwohl der Regen ihn abschwächte. Das war eine Offenbarung, darauf mußte man vertrauen, beschloß er.
Ulrike überlegte
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