Finnisches Quartett
fieberhaft, wie sie fortfahren sollte. »Woher weißt du, daß ich eine … Offenbarung bringe?«
»Deine Ankunft wurde mir angekündigt. Auf dem Altarbild in meiner Kirche ist dein Bild. Der Engel der ›Verkündigung an Maria‹ hat deine Narbe. Du bist der Engel der Offenbarung«, predigte Ezrael wie ein Pfarrer. »Was ist dein Auftrag?« fragte er und wischte sich den Regen aus dem Gesicht.
Der Mann war total verrückt, irgendein verwirrter religiöser Fanatiker. Solche Leute hatte Ulrike schon früher erlebt, aber sie waren ungefährlich gewesen. Außer dem Schlächter-Rolf, der oft mit ihrem Vater über die Apokalypse gestritten hatte. Vor Angst zitterten Ulrikes Hände, sie drückte sie in ihre Achselhöhlen, Schwäche durfte sie auf keinen Fall verraten. Irgend etwas mußte ihr einfallen, ansonsten konnte es geschehen, daß sich die strahlende Miene des Wahnsinnigen änderte und wieder so aussah wie vor dem WTC. »Mein Auftrag ist geheim, du mußt mich ihn weiter ausführen lassen«, versuchte sie zu erklären.
Die Antwort verwirrte Ezrael. Der Auftrag des Engels der Offenbarung mußte mit ihm zusammenhängen, warum hätte man ihm sonst seine Ankunft angekündigt? Vielleichtkannte dieser Engel seinen Auftrag noch nicht, auch er selbst hatte ja Jahre gebraucht, bevor er seinen eigenen erkannt hatte. Seine Gedanken stockten, die Verfolgungsjagd hatte Kraft gekostet, und er fühlte sich nach einer Rache immer wie hohl und leer, wenn sich die Bestie tief in ihn hineingegraben hatte, um sich auszuruhen. Er mußte in Ruhe nachdenken, beschloß Ezrael, aber der Gedanke zerplatzte, als sein Blick auf eine gähnende vergitterte Öffnung im Sockel eines Hauses fiel – ein Kellerloch.
Ezrael bändigte die Bilder, die sich ihm aufdrängten, und dachte angestrengt nach. Er würde mit dem Engel der Offenbarung das gleiche tun, was der Bote mit ihm gemacht hatte: Er würde dem Engel helfen, seinen Auftrag zu verstehen. Wenn es sein mußte, gegen ihren Willen.
»Und des Herrn Zorn wird nicht nachlassen, bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat.«
Ulrike trat dem Mann mit aller Kraft in die Leistengegend, drehte sich um und rannte los in Richtung Amstel, aber irgend etwas hielt sie am Knöchel fest. Sie stürzte hin, ihr Kinn krachte auf die glatten Pflastersteine, und sie spürte den Geschmack von Blut im Mund. Jetzt würde sie sterben, nur noch ein paar Augenblicke, sollte alles so zu Ende gehen, in einer nassen Gasse in Amsterdam, allein …
»… und soll fliehen davor, als jage sie ein Schwert, und fallen, da sie niemand jagt«,
murmelte Ezrael mit tiefer Stimme und drehte den Engel der Offenbarung unter sich auf den Rücken. Er betrachtete voller Mitgefühl die blutende Lippe des Engels, holte ein Stück Papier aus der Tasche, wischte die Lippe ab und beobachtete, wie das Papier rot wurde. Der Regen verwässerte die Farbe schnell. Aus der Nähe sah Ezrael, wie schön der Engel der Offenbarung wirklich war. Er spürte zwischen seinen Beinen das gleiche verbotene Beben wie in der Shankill Road und damals, als der Soldat ihn gezwungen hatte, sich solche Videos anzuschauen. DieFarbe vor seinen Augen näherte sich dem Rot. Das durfte nicht geschehen, denn sonst würde die Bestie die Herrschaft übernehmen.
Ezrael hämmerte mit den Knöcheln auf die Pflastersteine, bis der Schmerz das unerlaubte Gefühl wegwischte. Er wollte dem Engel der Offenbarung keinen Schaden zufügen. Der Engel war nur vor ihm geflohen, weil er seine Rolle in dem großen Plan noch nicht verstand. So mußte es sein. Ezrael holte aus seiner Brusttasche ein kleines metallisches Etui, nahm eine Ampulle und eine Injektionsspritze heraus und schaute den Engel der Offenbarung fordernd an: »Kannst du eine Spritze füllen?«
Ulrike zögerte. »Ich denke schon.« Nun begriff sie sofort, wie dumm ihre Antwort war. Warum hatte sie nicht gelogen, dann hätte der Irre sie loslassen müssen, wenn er die Spritze füllen wollte. Die Angst lähmte ihr Hirn. Sie wurde auf den Bauch gedreht, dann preßte ein Knie in ihrem Kreuz sie auf die Straße, und ihr stockte der Atem. Sie zitterte am ganzen Körper.
Ezrael legte die Spritze und die Ampulle vor dem Engel der Offenbarung auf das Pflaster und beobachtete, wie die Frau unsicher hantierte: Ihre Hände zitterten, aber schließlich war die Spritze mit Flüssigkeit gefüllt. Er reichte ihr ein verpacktes, mit Spiritus getränktes Tuch: »Wisch die Nadel und die Ellenbogenbeuge damit ab, such die Vene und
Weitere Kostenlose Bücher