Finnisches Quartett
zerschmettert. Er hat behauptet, ich wäre ein Dieb und Lügner. Das Geld hatte man ihm aus der Jackentasche genommen, sechsundsechzigeinhalb Penny. Drei Gläser Caffrey’s.«
Im Laufe der nächsten hundert Seiten veränderte sich Ezrael. Am Anfang langsam, dann mit einem solchen Tempo, daß Ulrike fast vor sich sehen konnte, wie er immer verwirrter wurde. Auch der Text änderte sich, war nun schwer verständlich, der Glaube trat noch stärker ins Bild und zugleich der Traum vom Rückzug auf den Berg Croagh Patrick und vom Fasten.
Es fiel leicht, zu verstehen, warum Ezraels Seele zerbrach, aber Ulrike war dennoch schockiert, als sie bemerkte, daß ihr der grausame Killer leid tat. Dieses Gefühl führte dazu, daß sie den Text noch schneller verschlang,und schließlich fand sie die Antwort auf die wichtigste Frage. Mary Cash war der Bote, der eine fertige Konstruktion, Ezraels Universum, betreten und es genau so weit ergänzt hatte, um ein Ungeheuer zu schaffen. Seine Schwester war es, die Ezrael ausnutzte, Mary Cash bestimmte, wen er töten mußte. Ezrael war eine Marionette seiner Schwester.
Ulrike überflog hastig den letzten Teil, daraus wurde man nicht mehr schlau: Zeichnungen, seltsame farbige Karten und Sätze aus der Bibel verschmolzen zu einem Ganzen, zu dem es für einen gesunden Verstand keinen Schlüssel gab.
Die Müdigkeit nahm zu, und ihr Magen knurrte. Sie hatte in der Nacht nur eine Art Zwieback gegessen. Ezrael behauptete, die irischen Mönche hätten das irgendwann im tiefsten Mittelalter zu sich genommen. Ulrike mußte entweder fliehen oder die Grundpfeiler der Welt erschüttern, die sich Ezrael über zwanzig Jahre lang sorgfältig errichtet hatte. Sie beschloß, beides zu versuchen, sonst könnte die mordende Gestalt, die sie vor dem World Trade Center gesehen hatte, zurückkehren. Doch wer würde gewinnen, wenn Ezraels Welt zerbrach, Eamon oder die Bestie?
22
Ulla Palosuo, die in Ketonens Arbeitszimmer auf dem Sofa saß, streckte die Arme aus und hielt die Handflächen hoch wie ein Verkehrspolizist, als Musti sie begrüßen wollte. Anscheinend scheute die künftige Chefin der SUPO irgendwie den weit über zehn Jahre alten Labrador, dessen Flanken schon grau schimmerten. Musti setzte sich geduldig einen Meter von Palosuo entfernt hin und forderte die Frau, die ihren Haarturm tätschelte, zum Wettbewerb heraus: Wer schafft es, den anderen länger anzustarren.
Die Blicke von Ketonen und Ratamo trafen sich, und beide zwangen sich, keine Miene zu verziehen. Ketonen hatte keine Lust, Palosuo zu erklären, daß Musti immer mit ihm zur Arbeit ging, seit er vor Jahren Witwer geworden war. Bei seinen Arbeitszeiten wäre der Hund zu Hause innerhalb weniger Wochen entweder verhungert oder an Einsamkeit gestorben.
Ratamos Bericht von dem Morchelomelett und der Magenspülung schien Ketonen und Palosuo immer noch zu amüsieren, wenn sie ihn anblickten, mußten sie lächeln. Ratamo war gar nicht nach Lachen zumute; wenn Nelli und Tapani in seinem schlechten Zustand das Omelett gekostet hätten, wäre der Abend womöglich traurig ausgegangen. Der Hals tat ihm weh, und im Mund hatte er noch den Geschmack der Kohletabletten und des Bitterwassers. Auch sonst ging ihm der gestrige Abend noch durch den Kopf, vor allem die Frage, ob er sich freuen oder besorgt sein sollte, daß Nelli und Tapani sich miteinander anfreundeten. Tapanis Krankheit schritt schnell voran, und je besser sie sich noch kennenlernten, desto mehr würde Nelli um ihren Großvater trauern. Das Mädchen hatte während der letzten vier Jahre schon seine Mutter und eine Großmutter verloren. Es ärgerte ihn auch, daß er heute keine Zeit haben würde, zu Nellis Elternabend zu gehen, und daß er gestern wegen der Pilzepisode nicht dazu gekommen war, Ilona anzurufen.
Die Mitarbeiter der SUPO warteten auf Ossi Loponen, der Lasse Nordman vom Flughafen Seutula abholte. Ratamo war müde, er hatte trotz der Schwäche nach der Magenspülung die halbe Nacht wach gelegen. Schnell holte er eine eben in der Apotheke gekaufte Schachtel aus der Tasche und las den Text auf der Packung: »Herbival. Zur Steigerung der Schlafbereitschaft bei vorübergehenden Schlafstörungen.« Ließ sich das noch komplizierter ausdrücken,wer mochte wohl diese Texte schreiben? Ratamo bezweifelte, daß dieses Naturheilmittel, ein Extrakt aus Baldrianwurzeln, Hopfenähren und Zitronenmelisseblättern, gegen seine Schlaflosigkeit helfen würde, aber er wollte es dennoch
Weitere Kostenlose Bücher