Finnisches Quartett
als bei einem mit Champignons oder Shiitake-Pilzen. Und diese Pilzsorten wurden in den Läden ja meistens vom Hersteller fertig verpackt verkauft.
Der Gastgeber kehrte an den Tisch zurück, kostete seinen Wein und bat Luis um Entschuldigung, daß er das Omelett jetzt noch nicht kosten könne. Er versprach aber, die Schüssel leer zu essen, sobald er sich wieder besser fühlte.
Ratamo war überrascht, als ihm etwas Positives zu Tapani einfiel: Er hatte seinen Wechsel zur Polizei schon seit vielen Monaten nicht mehr kritisiert. Das Rätsel um die Pilze ließ ihm jedoch keine Ruhe. »Wie sahen diese Pilze aus?«
Luis schluckte hinunter, was er im Mund hatte, bevor er antwortete. »Dunkelbraun, an der Oberfläche fast schwarz. Und sie sahen eigenartig aus, hubblig und faltig, fast so wie die Oberfläche eines Gehirns.«
»Oh, verdammt! Stockmorcheln«, brüllte Ratamo. »Luis konnte die Warnungen in finnisch nicht lesen. Wo ist das uralte Pilzbuch?« fragte Ratamo seinen Vater und langte dabei über den Tisch und zog den anderen die Teller mit den Pilzen unter der Nase weg. Zum Glück hatten Nelli und der Vater ihre Portion noch nicht angerührt.
»Das steht im Regal. Wieso?«
Ratamo suchte das Bild der Stockmorcheln und knallte das Buch vor Luis auf den Küchentisch. »Hast du die gekauft?« fragte er und erhielt von dem Spanier als Antwort ein erschrockenes Nicken.
»Willkommen zur Magenspülung«, sagte Ratamo zu dem verblüfften Luis und griff nach seinem Arm.
MONTAG
21
Ezrael ging in seinem Kamelhaarumhang, unter dem der Ledergürtel hervorschaute, auf und ab und verkündete die Wahrheit mit Speichel in den Mundwinkeln. Er durchmaß die Kirche mit solchem Tempo, daß die Kerzenflammen flackerten und ihre Schatten an der Engelwand schwankten.
Ulrike saß auf dem Dielenfußboden und blickte abwechselnd auf Ezrael und die abartig eingerichtete Wohnung. Es sah so aus, als hätte das tanzende Licht der Kerzen die Engel auf den Gemälden zum Leben erweckt. Sie war in eine neue Dimension hineingerissen worden, in das Universum eines Wahnsinnigen namens Ezrael. Ihr Blick fiel auf die Hand des Mannes, und sie versuchte ihrer Phantasie Einhalt zu gebieten, die ihr scheußliche Erklärungen für den Fingerstumpf durch den Kopf jagte. Angestrengt dachte sie nach und versuchte gleichzeitig der pausenlosen Predigt zuzuhören und zu überlegen, wie sie fliehen könnte. Was würde Lasse in dieser Situation tun? Doch der Gedanke schmerzte und machte alles nur noch schlimmer.
Die Angst hielt Ulrike wach, obwohl es schon kurz vor fünf Uhr morgens war. Ezrael hatte ihr im Verlauf des Abends und der Nacht alles von seinen Offenbarungen, von seinem Auftrag, vom Thomas-Evangelium, von der Petrus-Offenbarung und dem dritten Geheimnis von Fatima erzählt. Zwischendurch las der wie Johannes der Täufer gekleidete Mann lange, verworrene Abschnitte aus dem Buch vor, das er »Ezraels Evangelium« nannte, und dann wieder zitierte er seitenlang aus der Bibel, die er als das »GroßeBuch« bezeichnete. Ulrike hatte dieselben Geschichten nun schon dermaßen oft gehört, daß sie allmählich so etwas wie Ordnung in dem Chaos erkannte, das in Ezraels Kopf herrschte. In der Realität des Verrückten besaßen alle Worte eine bestimmte Bedeutung: der Bote, der Auftrag, die Bestie, das Kellerloch, die Verräter, die Rache …
Ulrike hatte immer noch furchtbare Angst, obwohl Ezrael sie jetzt wie seinen besten Freund behandelte. Seine Augen lächelten, und er war voller überschäumender kindlich-aufrichtiger Freundlichkeit. In diesem Menschen steckten zwei völlig entgegengesetzte Persönlichkeiten, und genau das machte ihr angst. So wie die Tatsache, daß die Phantasiewelt des Mannes ein absolut logisches Ganzes bildete: Alles andere stimmte, außer dem dritten Geheimnis von Fatima, dessen Inhalt der Bote Ezrael vorgelogen hatte.
Ezraels Glaube hörte sich so überzeugend an, daß Ulrike ernsthaft überlegen mußte, wer ihn entwickelt hatte. Vermochte dieser Wahnsinnige logisch zu denken? Wahrscheinlich, bei dem Blutbad vor dem WTC war er ja auch fähig gewesen, diszipliniert zu handeln, und er konnte mehr auswendig aus der Bibel zitieren als die meisten Pfarrer. Ulrike kannte selbst ein paar Bibelsätze auswendig: Sie hatte Hunderte Predigten ihres Vaters in der Kirche von Erzberg gehört und auch jahrelang den Kindergottesdienst besucht. Deshalb war ihr klar, daß Ezrael die Bibelstellen irgendwie eigenartig zitierte. Und wo hatte der
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