Finnisches Quartett
berichtete, also setzten sich beide vor dem Engel auf den Fußboden und hörten aufmerksam zu.
Hatte sie den Zugang entdeckt? Ulrike spürte, wie Freude in ihr aufkam.
»… und da will ich dir weisen, was du tun sollst«,
predigte sie. »Ich gebe dir einen neuen Auftrag. John Dexter ist ein Verräter, ihm gilt die nächste Rache.« Ulrike bereute ihre Worte schon, als sie noch in der Luft hingen. Sie hatte die Grenze überschritten, die sie von Ezrael und Mary trennte, und sie hatte das ganz bewußt getan. Aber sie war dazu gezwungen. Wenn Ezrael ihr so wie seiner Schwester gehorchte, dann würde er sich auf den Weg machen, um den Befehl auszuführen, und sie hätte die Möglichkeit, sich zu befreien.
Eine Spur von Weiß schimmerte in Ezraels Kopf, als er die Wahrheit witterte. Er holte aus seinem Rucksack die kleine Kopie der »Verkündigung an Maria«, glättete das Bild und wog die Worte des Engels der Offenbarung ab. Die Bestie war besänftigt, das sprach dafür, den neuen Auftrag anzunehmen. Im selben Augenblick verstand er alles. Es gab auch drei Engel: den Engel des Zorns, Seraphim und den Engel der Offenbarung. Ihre Aufträge würden vereinigt, wenn er sich für die Rache an John Dexter entschied. So mußte es sein.
»Zieh einher der Wahrheit zugut, und die Elenden bei Recht zu erhalten …«
Wütend auf sich selbst, trat Ezrael nach dem Brett, das krachend an die Wand flog. Er hatte sich von Zweifeln beherrschen lassen und dabei eins vergessen: Das Los der Auserwählten war nicht leicht. Manchmal strich ihnen der Allerhöchsteso über den Kopf, daß der blanke Schädel zu sehen war. Er empfand Reue, weil ihm nicht klargeworden war, daß der Engel der Offenbarung ihn einer Prüfung unterzogen hatte. Natürlich mußte er einen neuen Auftrag erhalten; bis zum Johannistag war noch mehr als ein Monat Zeit, und die Auserwählten ließ man nicht tatenlos bleiben. Plötzlich begriff er, daß er sich über den Tod des bisherigen Boten freute, er hatte sich von den eisernen Fesseln befreit. Allerdings verschwand dieses Gefühl schlagartig wieder, als er das kleine rothaarige Mädchen mit dem Sprungseil vor sich sah. Die Veränderung begann doch wohl nicht so schnell? Er hatte die ersten Pillen vor ein paar Stunden genommen.
Ulrike empfand eine verwirrende Freude, als Ezrael sagte, er wolle die Tötung von Dexter gemeinsam mit ihr planen. Es hatte geklappt. Ezrael hielt sie für den Boten, der ihm den Verräter benannte. Dennoch wogte die Angst noch in ihr auf und ab: Was war, wenn Ezrael sie vor seiner Abreise umbrachte? Sie war gezwungen, darauf zu vertrauen, daß in seiner Welt die Tötung des Boten nicht zulässig war.
Ulrike versuchte ernsthaft, Ezrael zu helfen, aber der hatte mit Mary zusammen schon so oft Morde geplant, daß er nicht viel Hilfe brauchte. Außerdem konnte er den Entwurf eines Planes nutzen, den er mit Mary im zeitigen Frühjahr für die Ermordung eines Physikers vom Institut für Plasma- und Fusionsforschung der University of California erarbeitet hatte. Die Reise in die USA und auch viele andere Details waren also schon vorbereitet.
Doch Ulrikes Angst wuchs, als sie verfolgte, wie zielstrebig Ezrael handelte. Der Mann hatte zahlreiche Morde ausgeführt, ohne gefaßt zu werden. Und wenn das Ezrael nun auch diesmal gelänge, bei einem Auftrag, den sie ihm erteilt hatte? Sie sagte sich selbst immer wieder, das sei nicht möglich. Zumindest nicht, wenn sie sich befreien könnteund den Behörden die Absichten des Verrückten mitteilen würde.
Sie wünschte Dexters Tod nicht, das konnte sie schwören. Der Befehl zum Töten war nur der Versuch zu taktieren, ein Mittel der Verzweiflung. Nach ihrer Befreiung würde sie Zeit haben, genauer zu überlegen, wie sie ihr Wissen über John Dexter und das Konsortium verwenden könnte. Wenn sie der Polizei alles mitteilte, würde man Ezrael schon fassen, bevor er Holland verließ. Sie beruhigte sich ein wenig.
Ulrike beobachtete Ezrael, der auf dem feuchten Fußboden kniete, die Karte studierte und nun völlig normal wirkte: Seine Augen glänzten vor kindlichem Eifer, er machte einen zuverlässigen, fröhlichen und lebhaften Eindruck. Es schien fast so, als wäre das der Gesichtsausdruck des gesunden Jungen Eamon, der in dem geisteskranken Ezrael gefangengehalten wurde. Am meisten erschütterte sie jedoch, wie logisch und vernünftig Ezrael jetzt handelte. Die Verwandlung vom tobenden Verrückten im Kamelhaarmantel zum exakt planenden Profi war so
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