Finnisches Requiem
Demeter, welche Treppe er hinuntergegangen war? Er hatte dieses Detail nie erwähnt.
Demeter spielte also ein doppeltes Spiel.
38
Jussi Ketonen blickte zum Rednerpodest im Mehrzweckraum des Olympiastadions. Eine Frau mittleren Alters in einem regenbogenfarbenen Kleid berichtete von ihren Erfahrungenbei Deepak Chopras Gesundheits- und Yogakurs in Indien. Die Frau strahlte wie ein Atomreaktor. In dem Raum saßen etwa fünfzig Zuhörer, ein gemischtes Publikum, das aus Menschen aller Altersklassen bestand. Es tat gut, einen Augenblick für Politiker und Medien unerreichbar zu sein.
Er trug ein Freizeithemd und eine blaue Baumwollhose, die er schon jahrelang nicht mehr angehabt hatte. Sie war ein Geschenk von Hilkka gewesen und stammte aus der Zeit Anfang der neunziger Jahre. Ganz hinten im Schrank hatte er auch blaue Hosenträger gefunden. Marketta, die neben ihm saß, trug, dem Charakter der Veranstaltung angemessen, ein weites Kleid in leuchtenden Farben.
Ketonen lächelte Marketta an. Er hatte eine Ewigkeit nicht mehr daran gedacht, daß auch eine Frau in ihrem Alter schön sein konnte. Marketta war es. Wenn man hinter ihre ergrauten Haare und Augenbrauen und die Falten in den Mundwinkeln blickte, sah man einen attraktiven Menschen. Marketta übte eine seltsame Wirkung auf ihn aus: In ihrer Gegenwart fiel ihm nichts ein, was er sagen könnte, und er lachte häufiger als sonst. Ketonen bemerkte, daß sein Hinterteil eingeschlafen war. Die Bambusunterlagen, die Marketta mitgebracht hatte, waren nur ein paar Millimeter stark.
Die Rednerin ließ sich über die sieben Gesetze des geistigen Erfolgs aus und machte dabei ein Gesicht, als wollte sie die ganze Welt umarmen. Den ersten Grundsatz nannte man »Das Gesetz der reinen Möglichkeit«. Ketonen seufzte. Die Rituale der Gurus interessierten ihn nicht im geringsten. Die Yoga-Übungen waren ihm wichtig, weil sie seinen Rücken entspannten und die Schmerzen durch den Bandscheibenvorfall linderten.
Der Abend hatte schlecht angefangen. Kurz vor ihrem Rendezvous hatte er seinen Kombiwettschein überprüft und festgestellt, daß sein Tip bei Bayern München und dem FCBarcelona stimmte, aber Juventus hatte ein Tor zuviel geschossen. Wenn Juventus und Manchester United unentschieden gespielt hätten, wäre sein Kombiwettschein für fünfzehn Euro in Finnmark einige Tausender wert gewesen.
Der Vortrag ging ihm gänzlich über den Verstand, zwischen ihm und dem Thema lagen Lichtjahre. Er mußte trotzdem mit Anstand bis zum Schluß durchhalten. Es war in gewisser Weise dem Yoga zu verdanken, daß sie sich überhaupt kennengelernt hatten. Im Sommer waren sie in der Akademischen Buchhandlung ins Gespräch gekommen, weil Marketta neben ihm gestanden und in Yoga-Büchern geblättert hatte. Als sich herausstellte, daß Marketta die Mutter von Arto Ratamos verstorbener Frau und Ketonen Ratamos Vorgesetzter war, beschlossen sie, zusammen einen Kaffee zu trinken.
Ketonen hatte befürchtet, Marketta würde ihm den Tod ihrer Tochter oder Inkompetenz vorwerfen: Ratamos Frau war vor zwei Jahren während der Ermittlungen der SUPO zu einem Verbrechen ermordet worden. Auch Marketta hatte Schreckliches aushalten müssen. Doch Ketonens Befürchtungen waren umsonst gewesen, die SUPO huschte nur einmal kurz durch ihre erste Unterhaltung, als Marketta erwähnte, wie wohl sich ihr Schwiegersohn Arto in der Ratakatu fühlte.
Ketonen konnte ihr natürlich nicht erzählen, was Ratamo in Budapest widerfahren war. Er befand sich da in einer unangenehmen Zwickmühle, denn Marketta würde später von Ratamo erfahren, was passiert war, und begreifen, daß Ketonen ihr nichts davon erzählt hatte. Hoffentlich hatte sie Verständnis dafür, daß er über die Ermittlungen mit keinem Zivilisten sprechen durfte.
Plötzlich fiel ihm ein, daß Ismo Varis immer noch in der Zelle saß. Irgend jemand müßte mit der spanischen Polizei vereinbaren, was mit dem Mann geschehen sollte. Die Spanier hatten stichhaltige Beweise für seine Beteiligung an demAnschlag auf die Filiale der Banco Bilbao in Sevilla. Das im Terrorismuspaket der EU vereinbarte Auslieferungsverfahren würde die Praxis in vieler Hinsicht verändern: Auch Finnland müßte seine Bürger, die bestimmter Verbrechen verdächtigt wurden, an andere EU-Staaten ausliefern. Aus einem anderen EU-Land konnte der Verdächtige dann sogar in ein Land außerhalb der EU ausgeliefert werden. Diese Regelung gefiel Ketonen nicht: So könnten diese Personen in
Weitere Kostenlose Bücher