Finnisches Requiem
allmählich ausstarb. Ein kleiner Dicker mit viel Pflichtgefühl, unter dessen harter Schale ein empfindsamer Mensch zum Vorschein kam, wenn man eine Weile kratzte. Es war ein Wunder, daß der Witwer seine Gesundheit nur mit Arbeit und nicht in anderer Weise ruiniert hatte. Daß er Chef der SUPO war, beschäftigte allerdings auch sie. Deswegen erzählte sie niemandem etwas von ihm. Marketta überlegte einmal mehr, ob es klug gewesen war, Jussi einen gemeinsamen Winterurlaub vorzuschlagen. Vor der Reise mußten sie Arto und Riitta von ihrer Beziehung erzählen.
FREITAG
39
Ein schwarzer Opel Zafira stand in der Fleminginkatu gegenüber der Einzimmerwohnung von Hannele Taskinen. Den Männern lief die Zeit davon, es war bereits kurz vor fünf Uhr, und bald würden die ersten, die Frühschicht hatten, zur Arbeit gehen. Sie hockten schon über eine Stunde in ihrem Auto und zitterten vor Kälte. Immer wenn sie glaubten, unbemerkt in das Haus gehen zu können, tauchte eine schwankende Gestalt oder ein Auto auf. Auch ein Streifenwagen der Polizei war schon zweimal an ihnen vorbeigefahren. Sie waren nicht maskiert, niemand durfte etwas bemerken.
Die Zeit schien stillzustehen, und die Kälte kroch ihnen in alle Glieder. Niemand hatte sie vorher gewarnt, daß die Nächte in Finnland schon im September so kalt waren. Sie wagten nicht, den Zafira anzulassen, jemand könnte auf das im Leerlauf tuckernde Auto aufmerksam werden oder sich über das Motorengeräusch ärgern, die Entfernung zum nächstgelegenen Wohnungsfenster betrug nur ein paar Meter. Finnland war ein seltsames Land: Alle Geschäfte und Restaurants hatten längst geschlossen, dennoch irrten heruntergekommene Männer und halb bewußtlose Jugendliche durch die Straßen.
Der größere der beiden Männer ging die Unterlagen noch einmal durch. Sie hatten sich Hannele Taskinens Krankengeschichte und ein Verzeichnis ihrer rezeptpflichtigen Medikamente der letzten fünf Jahre besorgt. Beide waren so lang wie eine Python. Der kleinere, bärtige Mann blickte zum hundertsten Male hinauf zu Taskinens Fenster. Die Gardinenwaren dunkel und die Straßenlaternen hell: Sie wußten nicht, ob die Frau schlief. Seine Hände schwitzten in den Gummihandschuhen.
Auch das dritte Disperin wirkte nicht. Hannele Taskinen hatte keine Lust, das Fenster zu öffnen, obwohl der Gestank des Mülls und des schmutzigen Geschirrs die ohnehin schon stickige Luft verpestete. Auf dem Shoppingkanal wurde ein Samurai-Messer vorgestellt, und bei Eurosport kam als Wiederholung Tennis.
Hannele konnte nicht schlafen. Seit sie von dem Mord im Atheneum gehört hatte, schlief sie nicht mehr richtig, sondern nickte immer nur für kurze Zeit ein. Heute nacht hatte sie gar nicht erst versucht zu schlafen, früh um acht wollte sie Irmeli anrufen. Die Auskunft gab ihr Irmelis Privatnummer nicht, sie war geheim. Jetzt mußte Irmeli ihr glauben. Sie hatte sich an den Namen der vierten Stadt erinnert.
Er war ihr am Abend plötzlich eingefallen, ohne irgendein Stimulans oder einen ersichtlichen Grund. Die Beklemmung ließ sofort nach, ihr Gehirn funktionierte also, sie hatte sich das alles nicht nur eingebildet. Sie bereute auch nicht mehr, daß sie Irmeli und der Polizei Peter Seppäläs Namen genannt hatte. Sie wollte schließlich keine Toten auf dem Gewissen haben. Und soweit sie wußte, hatte Pastor, ihr Liebster, nichts Ungesetzliches getan. Nur Peter Seppälä.
Sie hatte Angst um Pastor und ein wenig auch um sich selbst, obgleich die Neuroleptika des neuen Rezepts die Gefühle betäubten. Sie würde auch Pastor einen Dienst erweisen, wenn sie der Polizei half, die Morde an den Kommissaren aufzuklären. Wer weiß, vielleicht bewahrte sie Pastor vor einer Gefängnisstrafe. Wenn all das vorbei war, würde er zu ihr zurückkehren. Alles wäre wieder so wie früher. Nein, besser als früher: Sie würden zusammenziehen.
Plötzlich drang die Übelkeit durch den Wall, den dieMedikamente errichtet hatten. Die erhöhte Dosis der Psychopharmaka machte müde und stumpfte ab. Zum Glück konnten die Gifte wenigstens die Gedanken nicht trüben. Hannele trank einen Schluck warmes Wasser und betrachtete die auf dem niedrigen Bücherregal sorgfältig in einer Reihe aufgestellten Kuhskulpturen. Ihrer Meinung nach war die Partnerschaft mit der Kuh die wichtigste Erfindung der Menschheit. Der erste Impfstoff der Welt wurde gefunden, als man entdeckte, daß der Kuhpockenvirus, auf den Menschen übertragen, gegen die Pocken
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