Finnisches Requiem
Das durfte sich nicht wiederholen. Ein Gentleman mußte sich in allen Situationen unter Kontrolle haben. Die kommenden vierundzwanzig Stunden waren die wichtigsten seines Lebens. Pastor ließ sich aufs Bett fallen, lag ein paar Minuten still da und versuchte sich zu konzentrieren.
Die Gefühle normaler Menschen konnte er sich nicht leisten. Sein Leben hatte einen Sinn, er hatte eine Aufgabe. Dergrößte Teil der Menschen wählte nicht seinen eigenen Weg, sondern ein konventionelles Leben, wie es von der Mehrheit der Gesellschaft festgelegt wurde. Zum Glück ist die Natur klug genug, den meisten Menschen niemals die Frage nach dem Sinn, den das alles hat, zu stellen, dachte Pastor. Ihm war die Frage gestellt worden, und er hatte eine Antwort gefunden.
Er stand auf und spürte im Oberschenkel einen schneidenden Schmerz. Die Fäden waren bei seinem Tobsuchtsanfall aber glücklicherweise nicht aufgegangen. Anders als in den Hotels in Sevilla und Capri funktionierte hier der Wasserhahn im Bad tadellos. Er schüttete sich eiskaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. Das Kinn stand schon vor wie bei einer Hexe: Er nahm immer mehr ab. Auch sein Haar wirkte dünner als früher.
Der Gestank des Zigarettenrauches, der sich in den Möbeln festgesetzt hatte, war ekelhaft. Warum zum Teufel wählte die Gruppe, die sie unterstützte, so widerwärtige Hotels? Günstig war am Missionshotellet Nebo nur die Lage direkt im Zentrum von Kopenhagen, neben dem Hauptbahnhof. Pastor wischte mit feuchtem Toilettenpapier den Staub von den Möbeln.
Unter anderen Umständen hätte das eine nostalgische Reise sein können: Kopenhagen war 1990 das Ziel seiner ersten Geschäftsreise als Direktor von »Finska Järn« gewesen. Das Abendessen nach dem Abschluß eines Millionengeschäftes hatte sich ihm tief eingeprägt. Er erinnerte sich noch genau, wie die Seezunge im Munde eines Siegers geschmeckt hatte.
Pastor zog den Anzug mit Weste an und befestigte die Kette der Taschenuhr am Knopfloch. Endlich konnte er, wenigstens für kurze Zeit, seine eigenen Sachen tragen. Alles war bereit. Ljubo und seine Leute hatten den vierten Anschlag fast zwei Tage lang vorbereitet.
Auf seinem Handy ertönte die Melodie von »Myrskyluodon Maija«. 1 Das mußte Ljubo sein.
»Akseli Saarnivaara?« fragte eine Frauenstimme. Die Anruferin sprach englisch, hörte sich jedoch nicht wie eine Britin oder Amerikanerin an.
»Wer ist da?«
»Ich bin eine Freundin von Drina. Und von dir. Hannele Taskinen wurde am frühen Morgen in Helsinki ermordet. Zoran Jugović hat Drina und Fräulein Taskinen ermorden lassen. Er trifft heute nacht in Kopenhagen ein und wohnt im Hotel Imperial. Das Zimmer ist auf den Namen Claudio Crespo reserviert.« Die Anruferin beendete das Gespräch.
Das Blut wich ihm aus dem Kopf. Pastor setzte sich mit dem Telefon in der Hand auf den Fußboden und starrte vor sich hin. Jetzt hatte er auch den letzten Menschen verloren, der ihm etwas bedeutete. Plötzlich bemerkte er, daß er lachte, erst tief und leise, dann immer lauter, bis es so klang wie das Lachen eines Irren. Das Wasser lief ihm aus den Augen. Jetzt hatte er niemanden mehr. Und nichts, dessen Verlust er befürchten mußte. Er war vollkommen allein und vollkommen frei. Es mußte ja so kommen. Jetzt hatte er nichts anderes mehr als seine Aufgabe. Nichts würde ihn daran hindern, sie zu erfüllen. Nur er vermochte so ein Schicksal zu ertragen.
Nun brauchte er auch kein Geld mehr. Allein kam man auch ohne Geld zurecht, und er würde nie jemanden finden, der all sein Leiden und die Demütigungen verstehen könnte, die er erlebt hatte. Es würde nie wieder jemanden wie Drina oder Hannele geben. Alles hatte seine Bedeutung verloren. Außer der Rache.
Die Gefühle wogten in ihm auf und ab, aber jetzt hatte er sie unter Kontrolle. Er durfte sich keine Blöße mehr geben. Die Schuld von Jugović war nun vollkommen sicher.
Warum wollte jemand den Serben verraten? Hatte »Krešatik« erfahren, daß er hinter den Morden an den Kommissaren steckte? Aber warum sollte ein Mitglied von »Krešatik« gerade ihn anrufen? Anscheinend war an dem Spiel jemand beteiligt, den er nicht identifizieren konnte.
Der vierte Mord mußte ausgeführt werden. Die ganze Arbeit im Kampf gegen die EU durfte nicht umsonst gewesen sein. Nicht so kurz vor dem Ziel.
Er brauchte nicht einmal zu überlegen, ob er sich an Jugović rächen sollte. Entscheiden mußte er nur, wie es geschehen würde. Ljubo und das
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