Finnisches Requiem
mußte schließlich das Biologiestudium endgültig abbrechen.«
In Itäläs Tonfall schwang Gefühl mit, anscheinend mochte die Frau ihre Patientin, vermutete Kuurma. »Können Sie sagen, was die Krankheit in der Praxis bedeutet … Wie … äußert sie sich?«
Itälä erzählte, daß Taskinen dank der Medikamente imstande war, ein normales Leben zu führen, wenn sich die Krankheit nicht in der akuten Phase befand. Taskinen hatte zu ihrem Glück eine starke Sehnsucht nach menschlicher Nähe; das war der Keim für eine Besserung. In der akuten Phase der Krankheit interpretierte sie die äußere Realität total falsch. Sie litt unter schlimmen Wahnvorstellungen und akustischen Halluzinationen und wurde völlig willenlos. Das Ankleiden, die persönliche Hygiene und der Haushalt bereiteten ihr dann Schwierigkeiten. Ihr Gefühlsleben verflachte, und sie zog sich von der Welt zurück.
»Wie häufig ist die Schizophrenie?« fragte Kuurma. Das Thema interessierte sie. Sie kannte viele Menschen, die unterpsychischen Problemen litten. Manchmal betrachtete sie auch das, was sie selbst dachte, unter diesem Gesichtspunkt.
Für Itälä war die Schizophrenie eine Krankheit wie jede andere. Überrascht erfuhr Kuurma, daß über neunzigtausend Finnen wegen psychischer Störungen eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezogen. Nach den Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats war das der zweithäufigste Grund für Invalidität. Über eine Million Finnen benötigte Hilfe bei psychischen Problemen, und eine halbe Million Finnen nahm Medikamente gegen Depressionen.
»Sie haben angegeben, daß Taskinen allein wohnt. Wie kommt sie da zurecht?« fragte Kuurma.
Taskinen sei bisher aus eigener Kraft ziemlich gut zurechtgekommen, antwortete die Psychiaterin. Zum Glück wirkten die Neuroleptika in ihrem Falle. Bei den meisten Patienten, die unter der hebephrenen Schizophrenie litten, sei das anders. Itälä erzählte, daß die Krise in den neunziger Jahren gerade die psychiatrischen Leistungen besonders stark getroffen hatte. Man merkte ihr an, wie sie sich darüber ärgerte. Die Zahl der Krankenhausplätze für psychiatrische Behandlungen war um die Hälfte gesunken. Taskinen hatte noch Glück gehabt, ihre Erkrankung wurde im Rahmen des landesweiten Schizophrenie-Projekts Ende der achtziger Jahre so behandelt, daß ihr Zustand einigermaßen befriedigend war. Sie hatte den Teufelskreis, in dem man von einer Klinik zur anderen weitergereicht wurde, verlassen können, war in ein soziales Rehabilitationsprogramm eingegliedert worden und dann über ein Reha-Heim in die ambulante Behandlung gewechselt. Heutzutage waren Medikamente für viele Patienten die einzige Art der Behandlung.
Itälä war sichtlich erregt, als sie über die Probleme der psychiatrischen Arbeit sprach. Sie erklärte, daß die Einschnitte auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, die während der Krise begonnen hatten, nun schon über zehn Jahreweitergingen. Die Sozialausgaben Finnlands lagen jetzt bereits unter dem Durchschnitt der EU-Staaten. Das öffentliche Gesundheitswesen verfiel. Besonders die Situation in Helsinki war katastrophal: Die Einrichtungen der psychiatrischen Behandlung verzeichneten pro Jahr einhundertvierzigtausend Patientenbesuche. Einen Termin in einer psychiatrischen Sprechstunde bekam man erst nach drei Wochen, auch auf eine Behandlung in Krisenfällen mußten die Patienten mehrere Tage warten. Es gab zuwenig Ärzte, und zu allem Überfluß war ein großer Teil der Stellen schon seit Jahren nicht besetzt. Itälä bemerkte, daß sie sich zu sehr ereifert hatte. Sie murmelte etwas und trank ein Glas Wasser.
Kuurma beschloß, zum Kern der Sache zu kommen. »Sie haben in Ihrer Mitteilung geschrieben, daß die Geschichte Taskinens über die Morde an den Kommissaren nicht ernst zu nehmen ist.«
Nach Itäläs Auffassung war Taskinens Geschichte eine typische Erscheinungsform von Wahnvorstellungen. Sie hatte den Verdacht, daß diesmal eine verringerte Dosierung der Medikamente die Ursache war. Diese Änderung hatte sie jedoch inzwischen schon korrigiert.
Das laute Geräusch des Summers ertönte. Kuurma nickte, als Itälä sie fragend ansah, und kurz darauf betrat Hannele Taskinen unsicher das Zimmer.
Kuurmas Vorstellungen wurden zu Fleisch. Taskinen machte einen passiven Eindruck, die fettigen Haare glänzten, und alles, was sie anhatte, wirkte unsauber und zu groß. Aus irgendeinem Grund überraschte es sie, daß Hannele Taskinen eine schöne Frau
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