Finnisches Requiem
hielt Harris es jedoch für das allerwahrscheinlichste, daß der Mörder unter Verfolgungswahn beziehungsweise paranoiden Wahnvorstellungen litt. Möglicherweise besaß er eine Art Glaubensvorstellung, die mit der EU zusammenhing, eine Verfolgungsidee, die ihn motivierte. Die Hinweise ließen Harris vermuten, daß der Mörder die EU als Eroberer ansah, der Finnland die Unabhängigkeit geraubt hatte. Als Ursache dafür kam irgendeine Beleidigung oder Ungerechtigkeit in Betracht, die der Mörder erlitten hatte und mit der er all seine Schwierigkeiten erklärte. Das konnte zum Wunsch nach Vergeltung und Rache führen.
Der Mörder hatte sich vielleicht nie einer psychiatrischen Behandlung unterzogen. In dem Bericht hieß es, Verfolgungswahn sei schwer zu diagnostizieren. Außer in Hinsicht auf seine Wahnvorstellungen zeige der Kranke kein abweichendes Verhalten. Wahrscheinlich litt er nicht unter anderen Denkstörungen, Sinnestäuschungen oder einer Verflachung des Gefühlslebens. Wenn er nicht über seine Wahnvorstellungen sprach, war es unwahrscheinlich, daß man ihn fand.
Eines jedoch irritierte Harris: Botschaften hinterließen meist nur Serienmörder. Die aber operierten alle allein und in der Nähe ihrer Wohnung. Die Morde an den Kommissaren hingegen waren eine Demonstration perfekten Teamworks in zwei verschiedenen Ländern. Entweder war der Fall einzigartig, oder jemand führte sie geschickt auf eine falsche Spur. Welche Variante wahrscheinlicher war, konnte sie noch nicht beurteilen.
Riitta vermutete, daß der Bericht von Harris der SUPO nicht viel weiterhelfen würde. Sie könnten höchstens ihre Befragungen präzisieren, die sie an psychiatrische Kliniken und Polikliniken und an private Psychiater schickten. Harris riet ihnen, nach einem dreißig- bis vierzigjährigen Mann zusuchen, der in seiner Kindheit psychisch gelitten hatte. Wahrscheinlich hatte der Mann ein kühles oder distanziertes Verhältnis zu seiner Mutter gehabt und war nicht fähig gewesen, eine funktionierende Partnerschaftsbeziehung aufzubauen. In seinem Verhalten waren ihm nie Grenzen gesetzt worden, und seine Opfer sah er als Objekte an und nicht als Menschen.
Plötzlich öffnete sich Itäläs Tür, und Kuurma schreckte aus ihren Gedanken auf. Die Frauen gaben sich die Hand. Kuurma fielen die dunklen Augenringe und die hektischen Gesten der Psychiaterin auf. Auch Itäläs Sprechzimmer zeugte von Streß: Überall lagen Blätter und Mappen herum. Die junge Frau hatte sich einen schweren Beruf ausgesucht. Manchmal fragte man sich, was Menschen dazu trieb, anderen zu helfen.
»Suchen Sie den Mörder vom Atheneum?« fragte Itälä.
Kuurma wich der Frage mit einem höflichen Lächeln aus und bat Itälä, von Hannele Taskinen zu erzählen. Sie hatten nur eine Viertelstunde Zeit. Taskinen war zu zehn Uhr bestellt. Itälä wollte unbedingt dabeisein, wenn die SUPO mit Hannele sprach.
Itälä suchte auf ihrem Schreibtisch den Hefter mit den Patientenunterlagen von Hannele Taskinen heraus und sagte, sie habe ihre Patientin eine ganze Weile überreden müssen, bevor sie bereit war, ihre Informationen an die Polizei weiterzugeben. Dann begann Itälä mit einer Zusammenfassung. Die dreiunddreißigjährige Hannele Taskinen litt nach der ICD-10-Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation an einer hebephrenen Schizophrenie, die in der DSM-IV-Klassifikation der Amerikanischen Psychiatervereinigung als desorganisierter Typus der Schizophrenie bezeichnet wurde. Sie war als Siebzehnjährige erkrankt, und im Laufe der Zeit wurde die Krankheit chronisch, wie bei einem Drittel aller Schizophrenie-Patienten. Bedauerlicherweise wardie Prognose bei Taskinen wie auch bei den anderen Patienten, die schon in jungen Jahren an Schizophrenie erkrankten, schlecht. Taskinen litt unter der schwersten Form der Schizophrenie.
Itälä legte die Mappe auf ihren Schreibtisch und schaute Kuurma offen und ehrlich an. »Hannele Taskinen ist eine äußerst intelligente Frau. Die geringe Fähigkeit, Streß auszuhalten, eine Mutter, die zu hohe Ansprüche stellte, und eine vererbte Anfälligkeit für die Schizophrenie wurden ihr zum Verhängnis. Die erste schwierige Streßsituation in ihrem Leben löste die Krankheit aus«, sagte Itälä. »Hannele Taskinen brach mitten in den schriftlichen Abiturprüfungen zusammen. Danach kehrte ihr Leben nie wieder in geordnete Bahnen zurück. Während des Studiums verschlimmerten sich die Symptome, sie zog sich von den Menschen zurück und
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