Finnisches Requiem
überhaupt nicht anwesend, und Nelli saß so weit weg, daß er sich nicht mit ihr unterhalten konnte, ohne die Frauen zu unterbrechen. Riitta kam anscheinend prächtig mit ihrer Mutter aus. Ob sie auch einmal so werden würde?
Ratamo beschloß aufzugeben. Claudia Kuurma und er würden nie die allerbesten Freunde werden. Das war merkwürdig: In der Regel kam er sehr gut mit Frauen aus. Besser als mit Männern. Warum war das so? Auf alle Fälle gefielen sich Frauen weniger in lächerlichen Rollenspielen. Das erinnerte ihn an Wrede. Wut stieg ihm die Schläfen hoch, während im gleichen Moment ein Stück Tiramisu von der Größe eines Ziegelsteins vor ihn hingestellt wurde.
Jetzt hatte er also zwei Schwiegermütter. Marketta, mit der er sich glänzend verstand, und Claudia, die ihn anscheinend schon abscheulich fand. Andererseits war in dieser Hinsicht alles, wie es sein sollte: Er kam besser mit seiner Lebensgefährtin aus als mit deren Mutter. Ratamo holte die Kautabakdose aus der Tasche.
MITTWOCH
22
»Männer sind wie Toiletten: Frei, besetzt oder beschissen.« Riitta Kuurma las den Spruch an der Wand in der Toilette der psychiatrischen Poliklinik von Kallio und lächelte. »Was haben Männer und Strumpfhosen gemeinsam? Sie bleiben entweder hängen, laufen weg oder passen zwischen den Beinen nicht.« Sie lachte gedämpft, riß Papier ab, säuberte sich, spülte, wusch sich die Hände, verließ die Toilette und setzte sich im Flur auf eine Bank.
Neben Irmeli Itäläs Tür leuchtete immer noch das rote Besetztzeichen, die Psychiaterin hatte anscheinend viel zu tun. Es war vormittags halb zehn. Eine Routinebefragung führte Riitta in die Sturenkatu, sie wollte mit Itälä über deren Mitteilung sprechen. Auf die Anfrage der SUPO waren etwa zwanzig Antworten eingegangen. Itäläs Hinweis wirkte zwar nicht glaubhaft, aber sie mußten jeden Tip überprüfen.
Im Foyer der Poliklinik herrschte viel Betrieb. Riitta fragte sich, was diesen Menschen wohl fehlte. Dann wanderten ihre Gedanken zum gestrigen Abendessen. Arto glaubte vermutlich, sie hätte den Monolog ihrer Mutter genossen. Dabei hatte sie mit ihm unter dieser Tortur gelitten, obwohl die Probleme vorauszusehen waren. Vielleicht hätte sie ihn vorher warnen müssen, daß ihre Mutter auf jede Art von Streß mit hyperenergischem und unablässigem Geplapper reagierte. Der arme Arto wollte so sehr, daß ihre Mutter ihn sympathisch fand. Wenn jemand ihn nicht mochte, dann nahm er diesem das sofort übel. Arto war in vieler Hinsichtzu empfindlich. Am deutlichsten zeigte sich das an seinem Verhältnis zu Autoritäten.
Wenn man wartete, verging die Zeit nur langsam. Riitta holte den Bericht der Kriminalpsychologin Kate Harris, der in der Nacht eingetroffen war, aus ihrer Stoffhandtasche und las ihn konzentriert. Ihr Stift kratzte auf dem Papier, als sie die wichtigsten Stellen unterstrich. Harris hielt die Hinweise mit dem Namen »Alexander de Gadd« und dem Wort »Hinta« eindeutig für »Unterschriften«. Einer der Killer hatte die Zwangsvorstellung, an den Orten des Verbrechens persönliche Botschaften hinterlassen zu müssen. Diese verrieten mehr über den Täter, als ihm lieb sein konnte: Der wesentliche Grund für seine Taten würde sich niemals ändern, selbst wenn die Ausführung der Verbrechen, der
modus operandi
, wechselte. Auch ein verhaltensgestörter Krimineller war fähig, seinen
modus operandi
zu ändern, um zu vermeiden, daß er gefaßt wurde. Gegen den Drang, eine Unterschrift zu hinterlassen, war der Täter jedoch in der Regel machtlos, weil er deren psychopathologischen Grund nicht erkannte. Riitta las den Text und war sich nicht sicher, ob sie alles verstand.
Harris hielt es für unwahrscheinlich, daß der Mörder unter einer asozialen Persönlichkeitsstörung litt, einer Krankheit, die früher Psychopathie oder Soziopathie genannt wurde. Menschen mit einer asozialen Persönlichkeitsstörung waren im allgemeinen impulsiv und nicht fähig, planmäßig zu handeln und soziale Normen einzuhalten. Die meisten von ihnen begingen schon als Teenager Verbrechen.
Nach ihrer Auffassung könnten die an den Tatorten hinterlassenen Hinweise auf eine narzistische Persönlichkeit schließen lassen: Der Mörder wollte vielleicht seinen Größenwahn und sein Bedürfnis, bewundert zu werden, dadurch befriedigen, daß er seine Morde an den Kommissaren mit den Morden verglich, die finnische Helden einst begangen hatten.
Auf der Grundlage des spärlichen Materials
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