Finnisches Roulette
Unsicherheit. Kannte Nelson Oberst Agrons Vorleben? War ihm klar, daß er siegen mußte?
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Das kastenförmige Hotelschiff »Peter Schlott« lag am Rande des Dorfes Höchst am Mainufer. Auf der Pontonterrasse des weißen Schiffes mit zwei Decks unterhielten sich ein paar Gäste und tranken ein kühles Bier, das die Hitze des frühen Abends erträglicher machte. Bis zum Frankfurter Zentrum waren es nur etwa zehn Kilometer. An Sommerabenden flohen viele Städter vor den Abgasen und dem Lärm in die Ruhe des idyllischen kleinen Dorfes.
Konrad Forster brauchte sich nicht zu bemühen, unauffällig zu sein, er war es immer. Das erleichterte die Flucht. Forster nahm an, daß die Killer von Verona und Kraków hinter ihm her waren, Saul Agron und Sabine würden das Morden kaum einstellen, solange ihnen Annas Testament nicht in die Hände fiel. Und die Beschützer? Für wen arbeiteten sie? Kämen sie gegebenenfalls auch ihm zu Hilfe, wie sie es bei Laura Rossi und Eero Ojala getan hatten? Auf dem Schiff »Peter Schlott« würde ihn vermutlich niemand finden, redete er sich ein. Er hatte sich unter falschem Namen angemeldet und würde das Schiff erst morgen früh verlassen, um zur Versammlung der Aktienbesitzer von H & S Pharma zu gehen.
Die Ränder der blau-weißen Sonnenschirme und Tischdecken auf der Terrasse flatterten im Wind, der vom Flußherüberwehte. Forster betrachtete die Landschaft: Das Dach der Justinuskirche schaute zwischen den Laubbäumen hervor, die sich am Uferhang im Wind wiegten, und der Main glitzerte in der Sonne. Der schöne Anblick erschien ihm belanglos, denn diese Bilder konnten nicht vergessen machen, welche Leere Annas Tod hinterlassen hatte. Er spürte nichts, Trauer und Sehnsucht würden wohl irgendwann später kommen.
Er beklagte sein Schicksal nicht, jeder mußte seinen selbstgewählten Weg bis zu Ende gehen. Sein Weg begann an jenem Septembertag des Jahres 1972, als er Anna das erstemal getroffen hatte. Ihr Glück dauerte ein Jahr, dann trat Werner Halberstam auf den Plan, und Anna verliebte sich in den talentierten, wohlhabenden und beliebten jungen Arzt. Er selbst, ein nichtssagender Student, war schon bald vergessen.
Forster hatte eigentlich nie beschlossen, für den Rest seines Lebens in Annas Nähe zu bleiben. Es hatte sich einfach so ergeben, als Werner und Anna ihm eine Arbeit bei H & S Pharma anboten, und er konnte auch die gemeinsamen Augenblicke des Glücks mit Anna nicht vergessen. Forster hatte Jahrzehnte als Außenstehender gelebt, als dritter Tänzer beim Tango zweier Verliebter. Er wußte nicht, warum es so gekommen war, und er wollte es auch gar nicht wissen, er hielt sich an das Prinzip von »Ockhams Rasiermesser«: »Man muß die Dinge nicht unnötig verkomplizieren.« Forster ließ die Bilder der letzten Nacht mit Anna in einer heruntergekommenen Studentenbude in Bornheim auferstehen und erinnerte sich immer noch an den billigen sauren Rotwein und die harte Bambusmatte, an Annas unbeschwertes Lachen und den Geruch der Liebe.
Er hob das Glas und kostete zerstreut den warm gewordenen Apfelwein. Er trank selten, weil Alkohol ihn glücklich machte. Es konnte passieren, daß Oberst Agrons Männerihn fanden und er nicht mehr erleben würde, wie alles ausging. Zu seiner Überraschung fürchtete er sich aber nicht davor. Er hatte seine besten Jahre schon vertan. Doch er bereute nichts, sein Leben war nur einfach genauso nutzlos wie das der anderen auch. Es glich einem dahinratternden Zug, in den niemand einstieg und der leer am Ziel ankommen würde.
Forster trank den Rest des Apfelweins aus, verließ die Terrasse und streckte sich in der karg eingerichteten Kajüte auf dem schmalen Bett aus. Toiletten gab es in den Kajüten nicht, die auf dem Fußboden herumliegenden Limonadeflaschen mußten im Notfall reichen. Sein Blick irrte über die wackligen, unbemalten Holzmöbel, dann schloß er die Augen und konzentrierte sich auf das Plätschern des Wassers und die Stimmen, die von der Terrasse hereindrangen.
Jemand lief den Flur entlang. Dann hörte Forster noch andere Schritte und einen schweren Aufprall. Er war hellwach, lauschte und hielt den Atem an. War jemand gestolpert? Hatte man ihn gefunden? Ein paar Minuten wartete er, die Sinne aufs äußerste angespannt, doch dann beruhigte er sich allmählich wieder, da nichts zu hören war und nichts geschah. Er nahm sich jedoch noch entschiedener vor, sein Zimmer nicht vor morgen früh zu verlassen. Die Angst lag ihm im Magen wie ein
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