Finnisches Roulette
Frankfurt käme. Es konnte nichts mehr schiefgehen – das Testament befand sich in ihrem Besitz.
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Je heftiger Laura an dem in die Erde gerammten Pfahl zerrte, um sich loszureißen, desto tiefer drang der Stacheldraht in ihre Haut ein. Der Schmerz zog durch den ganzen Körper, das Blut floß heiß über ihre Haut, und die brennende Helligkeit versengte ihr die Augen. Von allen Seitenüberflutete sie das Licht, nur der gähnende Abgrund direkt vor ihr war pechschwarz. Und aus der Tiefe, aus dem Kern der Dunkelheit, kam etwas auf sie zu. Die Gestalt wurde immer größer, und ihr unförmiges Gesicht strahlte Haß aus. Das Wesen näherte sich ihr schnell, blieb genau vor ihr stehen und zerrte sich das Gesicht herunter. Laura starrte in die Augen ihrer Mutter und wurde von Entsetzen gepackt.
Laura riß die Augen auf, sie war von ihrem eigenen Schrei erwacht und schnappte nach Luft. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, daß sie von einem Alptraum heimgesucht worden war. Allmählich beruhigte sie sich, dann fiel ihr aber ein, wo sie war, und die Anspannung kehrte zurück. Sie rannte ins Bad, ließ eiskaltes Wasser über ihr Gesicht laufen und sah ihre müden Augen, die sie im Spiegel anstarrten. Die dunklen Augenringe, die glanzlosen Rastalocken und die fahle Haut bezeugten erbarmungslos, daß sie nicht mehr zwanzig war.
Im Hotel »Hessischer Hof« herrschte eine gespenstische Stille. Die mit unpraktischen Biedermeiermöbeln ausgestattete luxuriöse Suite wirkte wie das Zuhause eines Menschen, der zuviel Geld und zu wenig Verlangen nach Bequemlichkeit hatte. Laura ging ans Fenster und hörte immer noch nichts, obwohl sie unten den dichten Verkehr auf der Friedrich-Ebert-Anlage sah. Wahrscheinlich handelte es sich um schallisolierte Fenster. Es war kurz vor sieben Uhr abends.
Laura kaute an der Nagelhaut und überlegte, wie Konrad Forster ihr das Testament übermitteln wollte. Sie fürchtete, die Killer könnten dem Mann bis zu ihr folgen, und dann begänne der Spießrutenlauf erneut. Zum Glück hielt an der Tür ein Polizist Wache. Das unerwartete Telefongespräch, das sie vor dem Einschlafen geführt hatte, ging ihr durch den Kopf. Jetzt war sie über ihre Alternativen im Bilde und glaubte zu wissen, was sie mit dem Testament tun würde. Vielleicht erschien Eeros Tod weniger sinnlos, wenn all daswenigstens etwas Gutes zur Folge hätte. Möglicherweise gelänge es ihr so, den brennenden Schmerz des Schuldgefühls zu lindern.
Laura mußte auf die Toilette und ging ins Bad. Sie hob den Deckel hoch und fuhr zusammen, als sie im WC-Becken einen Plastikbeutel entdeckte. Sie betrachtete den seltsamen Klumpen eine Weile, griff nach seiner obersten Ecke und hob das vor Wasser triefende Päckchen vorsichtig ins Waschbecken. Das Verschlußband knisterte und ließ sich öffnen, in dem luftdicht verschlossenen Beutel befand sich ein dicker Brief. Laura erinnerte sich, auf dem Schreibtisch einen Brieföffner gesehen zu haben.
Sie ließ sich auf das breite Bett fallen, versank tief in den Polstern und riß gespannt das Kuvert auf. Obenauf lag eine handschriftliche Nachricht von Konrad Forster. Das Adrenalin schoß ihr ins Blut, sie mußte an das Ungeheuer aus ihrem Alptraum denken. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich konzentrieren konnte.
Forster schrieb, daß sie Anna Halberstams echtes Testament in der Hand hielt, mit dem Sabine Halberstam Annas Vermögen erbte. Laura könne entscheiden, ob Annas letzter Wille erfüllt werde. Wenn Laura das Vermächtnis vernichte, würde sie selbst Annas riesiges Vermögen erben, auch die Aktien von H & S Pharma. Sie wäre dann eine äußerst wohlhabende Frau.
Ihr Handy klingelte. Laura nahm den Anruf nicht an, als sie Samis Nummer auf dem Display sah, und vertiefte sich wieder in Forsters Brief. Der Mann war beim Schreiben von seinen Gefühlen überwältigt worden. Seiner Ansicht nach hatten die Handlanger von Saul Agron und Sabine Halberstam Eero getötet und Sami verwundet. Dann zählte Forster auf, wofür Agron und Sabine das Arsenal der Forschungsmittel von Genefab verwenden könnten. Die maßgeschneiderten Kinder auf Bestellung, die gläserne künstliche Gebärmutterund die anderen Visionen Forsters ließen Laura an das überraschende Telefongespräch denken, das sie vor ein paar Stunden geführt hatte, und die Emotionen übermannten sie.
Als nächstes teilte Forster mit, daß der Anwalt seines Vertrauens, Dr. Julius Köninger, Laura helfen würde, wenn sie sich dafür entschied,
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