Finnisches Roulette
erhalten.
Er würde nicht mehr an seiner Dissertation herumfeilen, sein Hang zum Perfektionismus war schuld daran, daß die Arbeit ohnehin schon allzu viel Zeit gekostet hatte. Doch wenn man über Elli schrieb, durfte man nicht oberflächlich sein. Niemand durfte das. Allerdings müßte er noch ein paar unvergängliche Sätze hervorzaubern, die Ellis Kunst knapp und prägnant beschrieben. Wenn es ihm doch nur gelänge, so eine schöne Formulierung zu finden wie einst Johannes Öhquist: »Der Unterton ihrer Kunst ist ein sich fügender Pessimismus, der sogar das Glück in den zarten Schleier der Wehmut einhüllt.«
Ojala verabschiedete sich von den Gemälden Ellis, schlängelte sich zwischen Flügel und Harfe hindurch zu dem großen Panoramafenster und öffnete die schneeweißen Gardinen einen Spalt. Von seinem Sockel im Innenhof starrte ihn Sibelius an, und hinter dem Denkmal sah man in der Laajalahti-Bucht die Kanus, die auf dem Wasser schaukelten und im Sonnenlicht glitzerten.
Bei einem kurzen Abstecher in den alten Teil des Museums begrüßte er Tizians »Porträt eines Mannes«, dann aktivierte er im Foyer die Alarmanlage und verließ wehmütigdie Villa Gyllenberg. Unter seinen Füßen knirschte der Sand, als er einen Blick auf das zweite Aleksis-Kivi-Denkmal des Museums warf, das im Hof vor dem Gebäude stand. Gutgelaunt grüßte er den Hausmeister Kalle, der mit seinem Rottweiler aus dem Häuschen auf den Hof gepoltert kam. Ojala überlegte, wie er im Sommer seine Zeit verbringen sollte. Den Urlaub genießen – das war eine Fähigkeit, die er nicht besaß. Die Zeit eines Einsiedlers verging am besten bei der Arbeit.
Gemächlich lief er die Kuusisaarenpolku entlang, die von Laubbäumen und prächtigen Eigenheimen gesäumt wurde, und fragte sich amüsiert, ob der Besitz eines Kleinwagens in dieser Straße verboten war. Der Seewind strich warm über sein Gesicht, auf dem Kopf indes, unter den kurzgeschnittenen, zwei Millimeter langen Haaren fühlte sich die Brise kühl an. Zum Auftakt seines Urlaubs hatte sich Ojala in die große Schar finnischer Männer eingereiht, die kahle Stellen vertuschten, indem sie ihre Haare auf ein paar Millimeter kürzten.
Als Ojala die Haltestelle an der Kuusisaarentie erreichte, kam der 194er Bus und nahm ihn mit. Der einzige Fahrgast außer ihm war ein langhaariger junger Mann, der mit seinem Gitarrenkoffer ganz hinten hockte. Auf den staufreien Straßen dauerte die Fahrt nicht lange. In Tapiola stieg Ojala um.
Das Zentrum Helsinkis und der Bahnhof wirkten am Mittsommersonntag gespenstisch leer, sogar die Musikanten im Metrotunnel hatten sich einen freien Tag genommen. Ojala fuhr mit der U-Bahn in Richtung Osten, stieg in Herttoniemi aus und beschloß, den reichlichen Kilometer bis nach Hause zu Fuß zu gehen. Er verabscheute Spaziergänge und überhaupt Bewegung an der frischen Luft, aber die friedliche Atmosphäre des Weges bis zu seiner Wohnung wirkte beruhigend.
Durch die Wohnungstür hörte Ojala sein Telefon klingeln. Hastig holte er den Schlüssel aus der Tasche und stocherte am Abloy-Schloß herum, dabei fiel ihm das Schlüsselbund herunter. Wie lange hatte das Telefon schon geklingelt? Als die Tür endlich aufgeschlossen war, stürzte er mit soviel Schwung hinein, daß er im Flur über den Teppich stolperte und geräuschvoll auf dem Bauch landete. Im Liegen griff er nach dem Telefon auf dem kleinen Flurtisch, nahm den Hörer ab und sagte keuchend seinen Namen.
Doktor Alfredo Cavanna stellte sich als Besitzer einer Kunstgalerie in Verona vor. Ojala wunderte sich über den englischen Dialekt, den der Mann sprach, das hörte sich anders an als bei den Italienern, mit denen er beruflich zu tun hatte.
»Soviel ich weiß, verfügen Sie über genaue Kenntnisse der Werke von Helene Schjerfbeck?« fragte Cavanna.
»Das kann man so sagen. Worum handelt es sich?« »Einer meiner Kunden beabsichtigt, das Ölgemälde ›Mädchen auf dem Sofa‹ von Helene Schjerfbeck zu verkaufen.«
Für einen Augenblick fürchtete Ojala, daß sich jemand auf seine Kosten einen Scherz erlaubte. Er hatte sich schon als Teenager in dieses Jugendwerk Ellis verliebt. »Schjerfbeck malte das ›Mädchen auf dem Sofa‹ im Jahre 1885, das war eine Periode, in der sie in Finnland viele bezaubernde Kinderdarstellungen schuf: ›Die kleine Riikka‹, ›Das Weidenkätzchenmädchen‹, ›Das betende Mädchen‹ und ›Das blumenpflückende Mädchen‹.« Damit deutete Ojala an, daß er ein
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