Finnisches Roulette
Fleck aufsaugte. Ihr kamen die Tränen. Sie wischte sich die Augen mit dem Saum ihres Marimekko-T-Shirts ab, ging durch die Wohnung und versuchte sich zusammenzureißen. Im Schlafzimmer blieb ihr Blick am Bild Muhammed Alis in großspuriger Pose hängen. Am liebsten hätte sie das Poster mit dem Boxhelden heruntergerissen. Der Wimpel der finnischen Eishockey-Nationalmannschaft, Samis Videosammlung und die Boxschuhe auf dem Fußboden ließen sie fast in Tränen ausbrechen. Laura besaß die Fähigkeit, Samis männliche Angeberei zu durchschauen und den Romantiker zu erkennen, der Liebesfilme und Dinner bei Kerzenlicht mochte.
Lag Sami jetzt auch im Krankenhaus so wie Eero? Beide wirkten auf ihre Weise hilflos: Sami war stark und gesellig, aber leicht zu beeinflussen, Eero hingegen war intelligent, kam aber nicht mit anderen Menschen zurecht. Wem von beiden würde sie helfen, wenn auch Sami etwas zugestoßen war? Warum gerieten alle Männer in ihrem Leben über kurz oder lang in Schwierigkeiten? Vielleicht lag es ja an ihr, da es in ihren Beziehungen letztlich immer dazu kam, daß sie sich um ihre Männer kümmern mußte. Ihr fiel ein, wie der flachsblonde Eero in der Pause zu ihr gerannt kam und Schutz suchte, wenn ihn seine Klassenkameraden hänselten. Nie würde sie das scheue Lächeln des kleinen Bruders vergessen.
Das Telefon klingelte, Laura stürzte in die Küche und meldete sich.
»Laura. Ich bin aus dem Gefängnis entlassen worden …« Samis Stimme klang gedämpft, die Verbindung war schlecht, es knatterte und knisterte.
Laura drückte das Telefon so fest ans Ohr, daß es weh tat. »Wo bist du? Ich warte …«
»Hör zu. Ich bin betäubt worden, und man hat mich irgendwohin geflogen. Ich weiß nicht, wo ich bin. Sie haben mir gesagt, ich soll dir mitteilen, daß du deinen Bruder dazu bringen mußt, Anna Halberstam die Aktien zu verkaufen. Jemand wird dich anrufen und dir genauere Anweisungen geben, gehorche dem Mann. Wenn du der Polizei etwas davon sagst, bringen sie mich um. Das soll ich dir so sagen. Hilf mir Laura! Nur du kannst …«
Das Tuten hallte in Lauras Ohr wider. Sie sank zu Boden und vergrub ihr Gesicht in den dunklen Locken. Auch die letzten Kräfte schwanden, in ihrem Kopf herrschte absolute Leere, und sie war kurz davor, das Bewußtsein zu verlieren.
Als Laura schließlich wieder auf den Boden der Realität zurückkehrte, zeichnete sich die neueste Wende im Geschehendeutlich vor ihr ab. Nur zu gut erinnerte sie sich an das, was der »Freund« gesagt hatte: Eero wäre in Lebensgefahr, wenn er versuchte, Anna seine Aktien zu übergeben. Laura mußte sich zwischen ihrem Mann und ihrem Bruder entscheiden. Um unbeschadet durch diese Hölle zu gelangen, war sie gezwungen, sich auf ihren Instinkt zu verlassen, und der befahl ihr, Sami zu wählen … Aber wie könnte sie Eero dazu überreden, Anna seine Aktien zu verkaufen, wo doch Ratamo, ihr Reisegefährte von der SUPO, genau das Gegenteil von ihr erwartete?
DIENSTAG
29
»Juchhu, drei Punkte!« jubelte Nelli, als das Lakritzebonbon an die Stirn der Gipsbüste Sigmund Freuds klatschte, die auf dem Fensterbrett stand. Für Elvis und Lenin bekam man nur einen Punkt. Auf einem Tablett zu ihren Füßen lagen die Reste des Frühstücks. Ratamo hatte Nelli den ganzen Vormittag verwöhnt, um sein Gewissen zu beruhigen, denn er wollte sie abermals zu Marketta bringen.
Ratamo strich eine strohblonde Haarsträhne aus Nellis Gesicht. »Du hast wieder gewonnen.« Er warf einen Blick auf die Uhr, es war höchste Zeit einzupacken.
Ratamo holte aus dem Schrank im Flur eine Tasche, die unter den Sitz im Flugzeug paßte, und hantierte eine Weile geräuschvoll an den Schlafzimmerschränken. Zum Schluß legte er auf seine Sachen und den Kulturbeutel einen Stapel wissenschaftlicher Zeitschriften und Zeitungsartikel zum Thema Bio- und Gentechnologie, in der Hoffnung, daß er zwischendurch Zeit haben würde, seine Kenntnisse aufzufrischen. Er mußte auch noch Saara Lukkari anrufen, denn er hatte vergessen zu klären, ob Laura Rossi und der betrügerische Geschäftsmann Juha Hautala immer noch Kontakt zueinander hielten.
»Und ich bleibe wieder alleine«, sagte Nelli in der Tür zum Schlafzimmer und starrte ihren Vater traurig an, der die Sauberkeit eines Sockenpaares prüfte.
»Allein bleibst du nicht, mein Schatz. Du bist ja bei Marketta. Ihr habt doch immer viel Spaß miteinander, undMarketta hat versprochen, daß sie mit dir in den Vergnügungspark
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