Finnisches Roulette
wußte, daß der Organismus auf starken Streß oft mit Müdigkeit reagierte, doch hier ging es um etwas anderes. Er kam aber nicht darauf, was es sein könnte. Auch Laura stand nicht außerhalb jedes Verdachts, er mußte die Frau künftig dementsprechend behandeln.
Eine Gruppe fröhlicher deutschsprechender Touristen versperrte die ganze schmale Gasse. Ratamo fiel der gestrige Bericht des BND ein. Demnach trieb Anna Halberstam Genefab an, Mittel zu finden, mit denen die Lebensdauer des Menschen wesentlich verlängert werden könnte. Es fiel ihm schwer, das zu verstehen. Wer sollte so verrückt sein, zweihundert Jahre leben zu wollen? Fünfzig waren schon schwierig genug, dachte Ratamo, obwohl er ahnte, daß sich seine Meinung mit zunehmendem Alter ändern würde. Über seinen eigenen Tod hatte er bisher nur beim Begräbnis von Angehörigen und bei den drei Ermittlungen nachgedacht, in deren Verlauf er mit ihm konfrontiert worden war.
In der von einem Deckengewölbe überspannten Einkaufspassageneben dem Amphitheater fand sich das Restaurant »Brek«, das die Frau an der Rezeption des Hotels »Italia« so wortreich empfohlen hatte. Ratamo bekam Bedenken, als er die Pastagaststätte im Cafeteriastil sah, denn sie erinnerte an eine finnische Betriebskantine. Er öffnete die Glastür, ging hinein, nahm ein Prospekt für Touristen und las den Text über die verschiedenen Pastaarten: Rigatoni, Linguine, Ziti, Radiatore, Ruote, Mostaccioli, Penne, Fusilli, Orzo, Vermicelli, Fettuccine, Ditalini, Conchiglie, Farfalle, Manicotti, Capellini, Rotini … Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, als er entdeckte, daß es ein Selbstbedienungsrestaurant war.
Die Yuccapalme schwankte, als Musti an ihrem Lieblingsplatz unter den Fahnen Finnlands und der EU aufsprang und zu ihrem Herrchen rannte. Das Rascheln der Kekstüte wirkte bei Musti wie eine Hundepfeife.
Ketonen faßte in die Tüte und überlegte dabei, daß für ihn eine ausgewogene Diät bedeutete, in jeder Hand einen Schokoladenkeks zu halten. Er warf Musti einen halben Keks zu und steckte sich anderthalb in den Mund; sie aßen im Verhältnis zu ihrem Gewicht.
Ketonen dachte über den Bericht des BND zu Anna Halberstam nach. Die todkranke Frau träumte von der Verlängerung der Lebenszeit und vom ewigen Leben. Nach Auffassung des BND wäre sie nie und nimmer fähig gewesen, alle Ereignisse der letzten Tage zu organisieren. Deswegen glaubten die Deutschen, daß Konrad Forster die Operation geplant hatte.
Jussi Ketonen schluckte die Meinung der Deutschen nicht. Er wußte, wie sehr ein todkranker Mensch um sein Leben kämpfte, wenn das Ende näher rückte. In seinen alten Knochen spürte er, daß Anna Halberstam mehr wußte, als der BND glaubte. Vielleicht führte die Frau alle an derNase herum, möglicherweise war sie ein Genie wie ihr Schicksalsgefährte, der Physiker Stephen Hawking.
Am meisten Sorgen bereitete Ketonen jedoch Genefab. Er mußte ständig daran denken, daß die Firma die Unterschiede im Erbgut der arabischen und jüdischen Völker erforschte. Das weckte in ihm eine unbestimmte Angst.
Wrede kam mit Saara Lukkari zusammen hereingestürmt, ohne anzuklopfen. »Hier ist der neue Bericht des BND«, sagte der Schotte und reichte seinem Chef eine Kopie. Voller Konzentration lasen die drei Jürgen Brauers zweite Zusammenfassung.
Das Flugreservierungssystem lieferte die Bestätigung, daß Konrad Forster zum Zeitpunkt des Mordversuchs an Eero Ojala in Verona war. Das Vorleben des Mannes werde fieberhaft unter die Lupe genommen, hieß es in dem Bericht. Der BND wußte schon, daß Forster 1947 in Oberstdorf geboren worden war, an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität von 1967 bis 1974 Jura studiert und nach seinem Abschluß sofort bei H & S Pharma angefangen hatte. Forster war unverheiratet, beschäftigte sich in seiner Freizeit mit der Antike und fuhr Motorrad, und mit dem Gesetz war er nur beruflich in Kontakt getreten. Als Anna Halberstam krank wurde, beendete Forster seine Tätigkeit in dem Pharmaunternehmen und wurde ihr persönlicher Assistent. Den Namen des Eigentümers von Future Ltd. verriet auch dieser Bericht des BND nicht.
»Vielleicht nutzt Konrad Forster die kranke Witwe aus, um in dem Unternehmen die Macht zu erobern?« dachte Saara Lukkari laut nach, als sie den Bericht gelesen hatte.
Ketonen steckte ein Stück Würfelzucker in den Mund, schlürfte Kaffee aus seinem Holzbecher und überlegte einen Augenblick. »Der BND glaubt, daß ein Kampf
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