Finns Welt - 01 - Finn released
laufen. Bis nach Hause.«
Und schon rennt er los. Flo und ich zögern noch einen Moment, aber stehen zu bleiben wie zwei Hydranten, ist ja auch bescheuert. Also folgen wir ihm, so schnell wir können.
Vom Gebrauchtwarenladen bis zu uns nach draußen ins ländliche Wohngebiet sind es gute sechs Kilometer. Daher dachten Flo und ich wohl im Stillen, Lukas mache sowieso nur Spaß. Falsch gedacht. Er läuft tatsächlich bis nach Hause!
Ich sehe ihn vor mir und der Abstand zwischen uns wird immer größer. Er läuft und läuft. An den Geschäften und den Anwaltsbüros vorbei. An den Spielplätzen und der alten Stadtmauer. An den Bushaltestellen und den Weidezäunen. Immer weiter, bis rauf in unseren »Grüngürtel«, wie unsere Eltern das nennen. Locker steht er vor seiner Haustür, als Flo und ich eine gefühlte Ewigkeit später um die Ecke gekrochen kommen. Meine Brust brennt, als hätte jemand Terpentin in meine Lungen gefüllt. Flo läuft stolpernd aus, hängt sich über den Gartenzaun und würgt, als wolle er kotzen. Es kommen aber nur Spucke und Wasser.
»Das macht wohl einen Level für mich und für euch ein paar Erfahrungspunkte. Ihr habt Erfahrung darin gesammelt, wie unfit ihr seid.«
»Scheißfußballer«, röchelt Flo, den Kopf knallrot.
»Wir hatten noch Rucksäcke auf«, sage ich, stütze mich auf meine Oberschenkel und hechle wie ein alter Hund.
»Was ist denn hier los?«, fragt Flos Mutter. Sie steht gegenüber in der Haustür, trägt einen Bademantel aus Seide und hat ein Handtuch um den Kopf gewickelt. Sie ist dünn wie Weidengras und lebt allein mit Flo, da sie jeden Mann wieder aus dem Haus wirft, sobald er sie bittet, seine Socken mitzuwaschen. Bei dem einen geht das schneller, bei dem anderen langsamer.
»Flo? Ist dir schlecht?«
»Wir sind nur zu viel gerannt, Frau Hertl«, sage ich.
»Ihr seid zu viel gerannt«, sagt Lukas, »ich bin gerade erst warm geworden.«
Die Tür von Lukas’ Haus geht auf und seine Geschwister purzeln heraus wie zwei überdrehte Zwerge. Die Häuser von Lukas und Flo liegen unserem genau gegenüber. Ich brauche bloß aus meinem Fenster zu sehen und schaue auf ihre Vorgärten. Die Zimmer meiner Freunde liegen auch zur Straße hin. Wenn wir mit Schwung werfen, können wir uns gegenseitig Haribotüten oder Coladosen in die Fenster schmeißen. Auf diese Weise haben wir schon viele Tauschgeschäfte gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes über die Köpfe unserer Eltern hinweg.
»Lukas!«, ruft sein kleiner Bruder Alex und hängt sich ihm wie ein Stofftier mit Klettpfoten ans Bein. Seine Schwester Venja zerrt an Lukas’ Arm herum, damit er ihn ausstreckt und sie daran wie an einer Turnstange einen Felgaufschwung machen kann. Kinder unter sechs Jahren und fünfundzwanzig Kilo machen so was nämlich gern.
»Jetzt lass doch mal«, meckert Lukas und will Venja abschütteln, aber die lässt nicht locker. Alex klebt derweil an seinem Bein fest und bleibt da auch hängen, als Lukas einen Schritt zur Seite macht. Lukas’ Vater ist noch arbeiten. Lukas’ Mutter liegt wahrscheinlich im Bett oder spielt am Computer Frauenspiele. Sie baut sich bei Die Sims ein zweites Leben auf.
Ich sage: »Lukas: Level 2. Flo: Level 1. Ich: Level 3. Wie viele Erfahrungspunkte jeder hat, denkst du dir mal aus, Flo. Ich muss nach Hause.«
Flo nickt nur still, während er weiter über seiner Gartenreling baumelt.
»Was ist mit dem?«, fragt Venja und Lukas passt einen Moment nicht auf und lockert seinen Arm weit genug, dass sie ihn sich schnappen kann. Sofort wirft sie ihre kleinen Füße in die Luft und Lukas muss den Arm anspannen, da Venja sonst mit dem Kopf auf den Weg plumpsen würde. »Boah!«, sagt er, während seine Schwester am Arm Saltos schlägt und sein Bruder mit seinem Bein verwächst.
»Ich geh dann mal rein«, sage ich und betrete unser Grundstück. In der sauber aufgelockerten Erde vor unserem Haus wachsen Farne und Funkien. Das Gelände erinnert mich jedes Mal an den Jurassic Park. Vor der Tür von Flos Haus wachsen Weinranken an der Wand und seine Mutter erntet außerdem jedes Jahr die zwei Birnbäume im Garten hinter dem Haus ab. Lukas’ Eltern halten ihren Garten »praktisch«, wie seine Mutter das nennt. Sie lassen die Zäune von Efeu umranken und haben eine Torwand auf den Rasen gestellt. Ich kenne jeden Zentimeter dieser drei Häuser, seit ich ein Kind bin. Jede dunkle Ecke unter einem Busch, jeden lockeren Ziegel auf einer Terrasse.
Ich schließe auf, rufe
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