Finns Welt - 01 - Finn released
Familiendruckerei damals gegründet. Von ihm sind noch die ältesten der Maschinen unten im Keller. Er ist stolz, dass mein Vater sein Handwerk übernommen hat. Wie Papa mag er alles, was man selbst mit den Händen macht. Er hat bis heute keinen Computer. Oma wollte mal einen haben, als sie bei uns gesehen hat, dass man darauf Solitär und Mahjongg spielen kann, aber Opa blieb hart. »Karten können wir doch viel schöner auf der Terrasse spielen«, hat er zu ihr gesagt und da der Blick von ihrer Terrasse auf die Nordsee fällt, war Oma schnell überzeugt. Sie starb, als ich zehn war. Seither fahren wir immer zu Ostern, in den Sommerferien und an Weihnachten rauf ans Meer.
Ich muss deswegen an meinen Opa denken, weil ich gerade vor dem Altersheim stehe. Ein einzelner faltiger Mann sitzt im Rollstuhl vor der Tür und hat eine Wolldecke auf den Beinen, unter der ihm schrecklich heiß sein muss. Mein Rad steht in einem Ständer. Auf dem Gepäckträger klemmt ein Karton mit Ausgaben der Lokalzeitung, in denen die Werbeflyer für unsere Druckerei liegen. Einen Stapel loser Zettel habe ich außerdem mitgebracht.
Jetzt, wo ich hier stehe, kommt mir meine Idee unmöglich vor. Soll ich wirklich da reingehen und herausfinden, wer bald stirbt? Oder soll ich einfach nur Zeitungen hinlegen? Oder ich verteile nur direkt ein paar Zettel im Café. Oder besser noch: Ich klemme sie an die Autos auf dem Parkplatz. Ja, das ist wahrscheinlich am besten. Die Wagen gehören den erwachsenen Kindern der alten Leute hier und diese müssen irgendwann »alles regeln«. So drücken sie es immer aus, wenn sie bei meinem Vater die Trauerpost in Auftrag geben: »Jetzt regeln wir erst mal alles.« Solange es »etwas zu regeln« gibt, können sie das Weinen und Traurigsein offensichtlich irgendwie aufschieben. Als wäre das was, was man ein- und ausschalten kann. Das habe ich nie verstanden. Als meine Oma starb, war für mich die Welt wochenlang abgemeldet. Ich wollte das nicht hinnehmen, dass ein Leben einfach so aufhört. Dass so etwas Grausames einem Menschen passiert, den ich lieb habe. Dass Oma nicht krank war, so mit Schmerzen und Sorge und irgendwann ist man wieder gesund, sondern dass wirklich das Ende kommt und man vorher auch noch weiß, dass man stirbt. Wie jemand, der hingerichtet werden soll. Da kann ich nicht »erst mal was regeln«. Ich finde, der Tod ist eine ganz große Sauerei.
Ich nehme die einzelnen Werbezettel aus dem Karton und gehe zum Parkplatz, um sie hinter die Scheibenwischer zu klemmen. Auf dem Boden liegt ein Popball, diese halben Flummis, die man umstülpt und die dann raketenmäßig losschießen. Es ist ein gelber mit Smiley drauf.
Ich lege die Werbezettel zur Seite, nehme den Popball und stülpe ihn über meinen Daumen. Ich lasse los. Er fällt schlapp herunter. Das Smileygesicht kullert über den Boden. Ich hebe es auf. Der zweite Versuch. Ich lasse es schnippen und es segelt auf einer irre langen Bahn über eine ganze Reihe Autos hinweg. Wie ein Golfball, den man mit Wucht abschlägt. Jawoll! Ich liebe es, wenn die Dinger richtig fliegen! Lukas findet es kindisch, aber meine Güte, ich will hier gleich Werbung verteilen, um ganz erwachsen eine Firma zu retten, da kann ich ja wohl mal eine Runde Popball über die Autos schießen.
Der Smiley trifft auf einem Toyota Landcruiser auf, ein fettes Gerät, dessen Räder quasi den Durchmesser eines Planschbeckens haben. Ich gehe zu dem Wagen und bücke mich zu dem Popball, als ich ein Mädchen weinen höre. Ich habe keine Schwester, aber ich weiß trotzdem, dass es zwei Arten des Weinens gibt. Wenn kleine Mädchen heulen, weil sie im Laden den ganzen Kram von Prinzessin Lillifee haben wollen, dann sind sie einfach nur nervig und bescheuert. Aber wenn kleine Mädchen weinen, weil ihnen wirklich das Herz wehtut, dann geht mir das immer durch Mark und Bein. Jessy, die kleine Tochter von Frau Schieber, die neulich unbedingt die Kätzchen haben wollte, fällt eher in die erste Kategorie. Lukas’ Schwester Venja fällt in die zweite. Letztes Jahr glaubte sie ihm, als er vor der Abfahrt ins mehrwöchige Trainingslager scherzte, dass er vielleicht nicht wiederkommt, wenn Real Madrid ihn direkt vom Platz weg ausfliegt. Er musste sie lange beruhigen, so sehr klammerte sie sich an ihm fest.
Das Mädchen nähert sich mit ihren Eltern langsam dem Parkplatz. Die Mutter nimmt sie in den Arm, streichelt ihr über die Wange und sagt: »Opa geht’s besser dort, wo er jetzt ist.« Ihr
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