Finns Welt - 01 - Finn released
Purzelbäume an seinem ausgestreckten Arm.
»Nimm mal!«, sagt Lukas zu seinem Vater und reckt ihm seinen Hintern und Arm entgegen, damit er die Kinder von ihm abpflückt. Dann kommt er zu uns. Wir klatschen ihn ab.
»Sauber«, sagt Flo.
»Danke«, sagt Lukas.
Ich klatsche in die Hände. »So, Jungs. Nach dem Duschen ab auf die Räder und ein paar Levels aufstocken?«
»Ja, ich will heute noch Levels aufstocken«, meint Flo, »bei WoW. Wenn ich mir Lukas so ansehe, kriege ich voll Bock darauf, eine Runde ausgiebig in meinem Sport zu zocken.«
»Das ist kein Sport«, widerspricht Lukas.
»Du willst an den Rechner?«, sage ich ungläubig. »Bei dem Wetter?«
»Was willst du denn?«, fragt Flo.
»Ich will ins Altersheim.«
»Was?«
Ich erkläre den beiden, was ich vorhabe, aber sie gucken so verlegen wie jemand, der zum Geburtstag vom Sohn des Schuldirektors eingeladen wurde.
»Ja, was denn?«, sage ich. »Ist doch eine geile Quest. Undercover sozusagen.«
»Also, ich wollte eigentlich noch den Sieg feiern«, meint Lukas. »Mit Vivien und so.« Er schaut zu seiner Freundin. »Macht ihr das doch zu zweit.«
»Zu zweit geht nicht, denn dann sammeln wir auf jeden Fall Erfahrungspunkte und du nicht«, erklärt Flo. »Das ist unfair. Ach ja, du hast übrigens 255, Finn. Ich hab da mal so Listen entworfen. Ich würde sagen, die Erfahrungspunkte verteilen wir nach der Zeit, die im Spiel vergeht, und dann gibt’s noch Bonuspunkte für erfolgreich erledigte Aufgaben in den Kategorien Kraft und Ausdauer, Geschicklichkeit und Magie. Also Magie ist dann Psychologie und so ’n Kram und da führst natürlich du mit 55 Punkten, wobei Lukas in Kraft und Ausdauer schon 60 Punkte hat wegen dem Wettlauf neulich und …«
»Das ist doch Schwachsinn, dass du heute nicht mitkommen kannst, nur weil Lukas nicht dabei ist«, unterbreche ich ihn. »Bei World of Warcraft läuft auch manchmal ein Raid, ohne dass ein Spieler dabei ist.«
»Ja, und das holst du dann nicht mehr auf«, sagt Flo. »Deswegen will ich heute auch ran. Um fünfzehn Uhr ist da …«
Ich unterbreche ihn wieder. »Es ist wichtig.«
»Ach komm«, sagt Lukas, »euer Laden wird schon nicht pleitegehen, nur weil du am Wochenende mal keine Leichen fledderst, oder?«
Meine Eltern plaudern drüben zwischen Bande und Tribüne lachend mit Lukas’ Vater. Ich habe Lukas und Flo nicht erzählt, wie eng es bei uns mit dem Geld ist. Ich möchte irgendwie nicht, dass sie das wissen, schon gar nicht Lukas, dessen Vater ein Dach an einem Vormittag fertig bekommt. Ich würde es manchmal gerne erzählen. Nichts macht so einsam wie Geheimnisse vor Freunden. Aber irgendwie … wie soll ich das sagen? Wenn Lukas’ Vater von der Arbeit kommt, dann sagt er immer: »Hier, von wegen Internet und Hightech, Fatzkebuch und der ganze Kokolores – ich sag euch eins, Jungs: Handwerk, das hat goldenen Boden.« Er hat wohl recht, denn er fährt einen neuen Audi A8. Lukas’ Fußballschuhe kosten 179 Euro. Mein Vater beherrscht auch ein Handwerk, aber das hat keinen goldenen Boden mehr.
Da stehen meine Freunde und gucken mich groß an. Ich schüttle den Kopf und gehe. »Hey, Finn, wohin willst du denn so schnell?«, ruft mein Vater, doch ich drehe mich nicht um.
Am Montag lässt uns Herr Broich in der Turnhalle alles aufbauen, was der Geräteraum hergibt. Allerdings nicht, um zu turnen. Wir verteilen Barren und Matten, stapeln Sprungkästen zu verschieden hohen Hindernissen auf, stellen Sitzbänke quer und lassen sämtliche Ringe und Seile von der Decke herab. »Mädchensport«, lästert Dustin, denkt aber heute daran, nicht auf den Hallenboden zu rotzen. Das Spiel heißt Pippi Langstrumpfs Küche. Man hüpft, klettert und springt so durch die Halle, dass man den Boden niemals berührt. Alle beginnen an einer zufälligen Stelle und müssen dann je nach Kommando von Herrn Broich an einen anderen Ort gelangen. Alle Jungs zum Beispiel oder alle Mädchen, alle Dunkelhaarigen oder alle Blonden. Das Spiel heißt so, weil Pippi Langstrumpf beim Backen mit ihren Freunden durch die Küche turnt, ohne den Boden zu berühren.
Während wir das Spielfeld aufbauen, sagt Lukas: »Immer noch sauer?« Seit dem Fußballspiel haben wir nicht mehr miteinander geredet, auch heute Morgen nicht. Mathe nicht. Deutsch nicht. Pause nicht. Ich war eisenhart. Ich habe mich sogar freiwillig mit Dustin unterhalten. Er nimmt ein Deo, bei dem der Schweiß durchkommt. Am Ende riecht alles süßsauer. Flo
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