Finns Welt - 01 - Finn released
und ein Wohngebiet erreicht. Flo sinkt auf die Knie und würgt. Lukas stemmt die Arme unter seine Rippen und atmet stoßweise Luft aus, als hätte er auf dem Fußballplatz einen Sprint gemacht. Jan-Erics Stirn glitzert vor Schweißperlen, aber er plappert begeistert, während er aufnimmt, wie Flo Tennisbälle aus seinem Hals zu drücken versucht.
»War das super«, japst er, drückt auf Stopp, klappt den kleinen LCD-Bildschirm der Kamera auf und spult zurück. Lukas schaut unseren imaginären Korridor zurück und sagt: »Uns folgt keiner.«
Flo rappelt sich langsam auf und sieht mit mir auf Jan-Erics kleinen Bildschirm. Er hat die ganze Flucht gefilmt. Man sieht nur verwackelte Bilder und huschende Füße auf Gras. Dazu hört man Trappeln und Hecheln. Lukas schaut sich die Aufnahme nun auch an. »Wenn man ein Fußballspiel so aufnehmen würde, würde einem die Sendeleitung den Kopf abreißen«, kommentiert er.
»Cool wäre gewesen, wenn man uns von oben rennen gesehen hätte. Wie bei Herr der Ringe, wenn sie über die Berge wandern«, sagt Flo.
»Soll Jan-Eric einen Heli aus dem Hut zaubern, oder was?«, fragt Lukas.
»Jungs, ihr habt ja keine Ahnung«, sagt Jan-Eric und tippt mit dem Zeigefinger auf das Display. »Das ist spitze! Genau so fangen wir den Film an, mit diesen Bildern. Flucht. Panik. Todesangst. Die Zuschauer denken sich: Was ist das? Wo ist das? Libyen? Naher Osten? Menschenjagd? Und dann zeigen wir im nächsten Bild, wie drei furchtlose, verdreckte Jungs über irgendwas drüberklettern. Wer ist das? Warum sind die auf der Flucht? Sind sie überhaupt auf der Flucht? Sind sie von zu Hause abgehauen? Das baut Spannung auf und noch bevor wir auflösen, was die Quest Querfeldein ist, haben wir das ganze Publikum bereits im Sack!«
Er schaltet die Kamera aus und schultert sie wieder. Er schaut kurz nach vorn, links und rechts, als wolle er sicherstellen, dass wir im erlaubten Korridor sind. Dann geht er geradeaus weiter. Wir folgen ihm und trinken Wasser. Langsam gehen unsere Vorräte aus. Nach einer Weile dreht er sich zu uns um. »Wir brauchen natürlich gute Geschichten. Wer seid ihr? Was habt ihr für ein Leben? Habt ihr da was?«
»Ja, die Wahrheit«, sagt Lukas.
»Wenn die was hergibt, kann man mit ihr arbeiten«, meint Jan-Eric knapp. Keiner antwortet ihm.
»Finns Eltern haben eine Druckerei, noch so richtig, mit großen Pressen und Maschinen«, erzählt Lukas. Ich sehe streng zu ihm rüber, weil ich nicht will, dass er über unsere Geldprobleme spricht, bis mir einfällt, dass davon niemand etwas weiß. Wenn eine Kamera dabei ist, vergisst man sofort, dass man Geheimnisse auch bewahren und stattdessen alles Mögliche erzählen kann. Dabei ist ja genau das meine Spezialität.
»Lukas hat zwei kleine Geschwister, die mit seiner Stiefmutter ins Haus gekommen sind«, sage ich. »Sein Vater hat sich von seiner echten Mum scheiden lassen. Er spielt in der C-Jugend schon Verbandsliga und steigt sogar bald auf.«
»Das ist gut«, steigt Jan-Eric sofort ein, »du bist von deinen Eltern verletzt worden und willst es jetzt im Sport allen zeigen.«
Lukas runzelt die Stirn. »Wer sagt denn, dass ich verletzt worden bin? Fußball habe ich immer schon gespielt!«
»Ich wohne mit meiner Mutter allein«, sagt Flo, als wolle er Jan-Eric von Lukas ablenken. »Sie hat meinen Dad rausgeworfen, als ich noch ein Kleinkind war. Sie wirft jeden Mann einfach so raus, sobald sie das erste Mal seine Socken waschen soll!«
Flo verrät diese Sache irgendwie mit zorniger Lust. Er wollte nicht von Lukas ablenken. Er will seine Mutter im Fernsehen in die Pfanne hauen. Jan-Eric hält an, legt die Kamera auf den Boden, stellt die Tasche daneben und zieht laut sirrend den Reißverschluss auf. Er nestelt ein paar schwarze Sender mit kleinen Antennen aus der Tasche, die man hinten am Gürtel befestigen kann. Dünne Kabel kommen aus ihnen heraus und enden in einem Ansteckmikrofon. Während er die Kabel entknotet und die Batterien prüft, wendet Jan-Eric sich an Flo. »Merk dir, was du eben gesagt hast, und sag es gleich noch mal genau so!«
»Das mit den Socken?«, fragt Flo.
»Genau das!«
»Was machst du da?«, will Lukas wissen.
»Ich verkable euch. Muss ja eh gemacht werden. Und wenn jetzt schon so gute Sätze kommen, will ich die nicht verschenken.«
»Wer hat was von Verkabeln gesagt?«, fragt Lukas.
»Ja, soll das eine Reportage ohne Ton werden, oder was?« Jan-Eric zeigt nach vorn. »Dort kommen wieder
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