Finster
rechten Arm und streckte mir den Mittelfinger entgegen.
Das brachte das Fass zum Überlaufen.
» Also gut! «, brüllte ich.
Sie blickte zu mir zurück und sah, wie ich den langen Trageriemen der Tasche um meine Schulter schlang und losrannte. »Hui!«, krächzte sie. Dann drehte sie sich wieder nach vorn, hob ihren knochigen Hintern aus dem Sattel und trat fester in die Pedale.
Ich lief hinter ihr her. Die schwere Ledertasche baumelte an meiner Seite und schlug mir gegen die Taille. Zuerst holte ich auf. Dann wurde sie schneller und zog davon.
Das war’s, dachte ich. Sie entkommt mir. Ich muss verrückt gewesen sein, dass ich dachte, ich könnte jemanden auf einem Fahrrad einholen … besonders mit meinem schweren Gepäck. Was immer Lois auch in der Tasche hatte - Pistolen, Taschenlampen, Munition? -, es musste bestimmt acht Kilo wiegen.
Ich bin tatsächlich verrückt. Ich verfolge eine alte Frau ! Was mache ich, wenn ich sie erwische? Sie verprügeln? Sie der Polizei ausliefern, weil sie Lois’ Unfall verursacht hat?
Überflüssige Spekulation, dachte ich. Ich habe sowieso keine Chance …
Der Abstand zwischen uns schien sich zu verringern.
Fährt sie langsamer?
Natürlich, dachte ich. Sie ist eine alte Frau. Sie ist erschöpft und hat sich wieder auf den Sattel gesetzt.
Ich war ungefähr fünfzehn Meter hinter ihr, als sie um eine Ecke fuhr. Durch eine Abkürzung quer über eine Wiese halbierte ich ihren Vorsprung. Ich lief schneller. Holte auf. Noch schneller. Nur noch vier Meter. Zwei. Ich legte noch einen Zahn zu, kam näher und näher, meine Füße flogen durch die Luft, berührten beinahe das Hinterrad ihres Fahrrads.
Ich trete einfach dagegen, dachte ich. Ein sauberer harter Tritt seitlich gegen das Rad, und sie fällt um.
Tu es nicht! Sie ist eine alte Frau!
Sie verantwortet unseren Unfall! Wegen ihr können wir Eileen nicht retten! Es ist alles ihre Schuld, und sie hat es mit Absicht getan!
Als ich nach ihrem Hinterrad trat, beschleunigte sie. Mein Tritt ging daneben. Der Fuß schwang zu weit zur Seite und kam schräg auf dem Boden auf. Irgendwie stolperte ich über meine eigenen Beine und fiel.
64
Der Sturz war nicht das Schlimmste. Auch nicht der stechende Schmerz, als ich auf den Boden aufschlug. Auch nicht das Brennen in meinen Händen und Ellbogen, als ich über den Asphalt rutschte. Und auch nicht der auflodernde, pochende Kopfschmerz.
Das Schlimmste geschah erst, nachdem ich mich auf
Händen und Knien aufgerichtet hatte. Ich hob meinen Kopf und sah, wie die alte Frau ihr Rad in einem engen wackligen Kreis wendete und auf mich zustrampelte.
Ich hatte nicht mal Luft, um zu fluchen oder zu schreien. Aber ich hörte mich ein panisches Winseln ausstoßen.
Sie trat fester in die Pedale, wurde schneller und kreischte: »Hui!«
Ich packte den Ledergriff der Tasche und rappelte mich auf.
Lois hatte gesagt, in der Tasche wären Pistolen. Aber die Tasche war mit einem halben Dutzend Reißverschlüssen verschlossen. Keine Chance, rechtzeitig eine Waffe rauszuziehen.
Selbst wenn ich könnte, würde ich die alte Zicke nicht erschießen.
Wahrscheinlich.
Sie beugte sich tief über den Lenker, grinste wie eine Verrückte und schien mich mit dem Fahrrad über den Haufen fahren zu wollen.
Ring-ring! Ring-ring-ring!
Ich bereitete mich vor, im letzten Moment zur Seite auszuweichen.
Dann hat sie eine fifty-fifty-Chance …
Ich schleuderte die Tasche in die Richtung ihres Gesichts und sprang nach rechts. Das Fahrrad hätte mich trotz meines Sprungs umgemäht, aber es fuhr im letzten Moment einen Bogen, als die alte Frau die schwere Tasche mit beiden Händen auffing.
Ich taumelte, stützte mich an einem parkenden Auto ab und wandte mich um.
Die Fahrradhexe saß aufrecht im Sattel und rollte freihändig im Leerlauf in der Mitte der Straße davon - Lois’ Ledertasche hielt sie wie eine Trophäe hoch über dem Kopf.
Ich hatte genug Atem geschöpft, um ihr hinterherzurufen. » Nein!«
Die Hexe antwortete von weitem mit einem »Hii-hiiii!« und ließ die Tasche in ihren Schoß sinken.
Ich war nicht in der Verfassung, sie zu verfolgen. Beim Sturz auf die Straße hatte ich mich schwerer verletzt als vorher bei dem Unfall. Meine Hosenbeine und meine Hemdsärmel waren aufgerissen. Meine Knie, Ellbogen und Handflächen waren aufgeschürft und fühlten sich an, als hätte jemand mit einem Knüppel darauf geschlagen. Sie brannten höllisch. Mein Kopf pochte. Aber ich musste der alten Frau folgen.
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