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Finsterau

Finsterau

Titel: Finsterau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Maria Schenkel
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hatte er ein gutes Auskommen, doch jetzt? Die Menschen heutzutage kauften Massenware, Messer mit Plastikgriffen, für ein Butterbrot zu haben. Alles billig, alles schnell, brauchst was Neues, gehst zum Woolworth oder Bilka. Da schmissen sie den Kunden das Gelumpe hinterher. So ein Messer konnte man nicht schleifen, da bog sich die Klinge schon beim Anschauen, und wenn er sie auf den Wetzstein legte, musste er Angst haben, sie zerbrach, so schundig war das Zeug.
    »Die guten alten Zeiten sind vorbei«, sagte er halblaut zu sich selbst und hielt sich an der Tischplatte fest, um besser aufstehen zu können. Solange er denken konnte, war er auf der Reise. Er war kein Zigeuner, seine Familie gehörte zu der Gruppe der Jenischen. Hausierer, Scherenschleifer und Korbflechter waren sie seit Generationen, alles anständige Leute mit einem ordentlichen Wandergewerbeschein und einem kleinen Haus in Unterlichtenwald. In der schlechten Zeit während des Dritten Reiches, als selbst der Gewerbeschein seine Gültigkeit verloren hatte und der Vater zum Arbeiten in der Munitionsfabrik zwangsverpflichtet wurde, da hat ihnen das Häusl das Leben gerettet, auch wenn die anderen Jenischen wegen der Sesshaftigkeit auf sie herabblickten.
    »Wennst in einem Haus wohnst, dann bist kein Jenischer mehr, dann bist ein Gatschis.«
    Aber Fakt war, ohne festen Wohnsitz hätten sie alle nach Dachau müssen.
    Einen wie ihn hielt es nicht an einem Ort, nach dem Krieg ist er los. Das hast im Blut, daran kannst nichts ändern.
    Zwei, drei Mal im Jahr kam er in diese Gegend,darum kannte er das Wirtshaus. Er hatte seine festen Routen. Zwei Jahre nach dem Krieg war er das erste Mal hier gewesen und dann bis auf wenige Unterbrechungen Jahr für Jahr.
    »Verdammt, ist das lange her!«, sagte er halblaut zu sich selbst und klopfte, unsicher auf den Beinen stehend, seine Jacke nach den Zigaretten und dem Feuerzeug ab. Er konnte aber weder das eine noch das andere finden, darum setzte er sich wieder auf den Stuhl.
    Wie er gestern wieder in Einhausen war, da war er hier eingekehrt. Er hatte sich einen sauren Presssack bestellt. Wie immer. In der Baitz hier, da machten sie den besten der ganzen Gegend. Die Bedienung, die war eine rechte Beißzange, aber das Essen war gut, und man bekam noch was für sein Geld.
    Am Nebentisch haben ein paar Gäste zum Politisieren angefangen. Eine Zeit lang hatte er nur zugehört und dann mischte er sich über den Tisch hinweg in den Disput ein, bis er schließlich sein Bier genommen hatte und sich zu ihnen setzte.
    Später, als die Wirtsstube schon leerer wurde, ging es immer hitziger zu. Geschichten aus der »alten Zeit« und dass bei einem wie dem Adolf dies oder jenes nicht passieren würde, gingen hin und her.
    Er merkte gar nicht, wie viel er getrunken hatte. Normalerweise hielt er sich zurück, aber gestern … Am Ende waren es doch einige Bier und Schnäpse zu viel gewesen.
    Wieder suchte er die Taschen erfolglos nach einer Zigarette ab.
    »Verdammt, wo hab ich die bloß hingesteckt?«
    Wenn die anderen nicht aufgebrochen wären, er hätte weiter debattiert und gesoffen, und das an einem Tag, an dem das Geschäft nur schleppend gelaufen war. Wie dann der Letzte aus der Runde die Lust am Disputieren verloren hatte und heim ist, da hatte er sich noch einen letzten Obstler und eine Halbe bestellt.
    »Auf einem Bein kannst schlecht stehen.«
    Und wie immer, wenn er rauschig war und sich über die Dummheit und die Ungerechtigkeit der Welt ärgerte, kam ihm die ganze unselige Geschichte wieder in den Sinn. Und dass es ihn wurmte, dass sie den Richtigen nie erwischt hatten. Ja, schlimmer, nicht einmal nach ihm gesucht hatten. Der, der die junge Frau damals gedupft hatte, der führte jetzt sicher ein lustiges Leben, womöglich mit Frau und Kind. Der bräuchte sich bestimmt nicht Tag für Tag den Buckel krumm machen, der hatte womöglich ein gutes und sicheres Auskommen. Und er? Er hatte sich eigentlich nie was Großes zuschulden kommen lassen, und doch, bei ihm ging es immer bloß bergab. Für diese ganze Bagage hier war er ein Scherenschleifer, ein Lump und ein Zigeuner, wen scherte es, dass er meistens versucht hatte, ehrlich zu sein.
    »Die lassen dich schon nicht aufkommen«, sagte er zu sich selbst.
    Immer noch vom Alkohol benommen, probierte er ein weiteres Mal, vom Stuhl hochzukommen. Schließlich stand er, noch etwas wackelig auf beiden Beinen. Er tastete sich im Finstern langsam und vorsichtighinüber zur Tür. Sie war

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