Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Finstere Gründe

Finstere Gründe

Titel: Finstere Gründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
das Porto für Postkarten einige Pence weniger betrug. Es war, so wurde ihm klar, völlig absurd, für eine kleine Einsparung so lange zu warten.
    Aber er wartete.

    Lewis erhielt die Karte am nächsten Morgen, geschrieben in Morses kleiner, ordentlicher und gelehrtenhafter Schrift:

    Im allgemeinen habe ich mich seit meinem Urlaub im letzten Jahr nicht mehr so jämmerlich gefühlt, aber hier in D. geht es bergauf. Herzliche Grüße an Sie (und an Mrs. Lewis) —doch an keinen unserer Kollegen. Haben Sie das schwedische Mädchen weiterverfolgt? Ich denke, ich weiß, was das Gedicht bedeutet! Mit Sicherheit am Sa. wieder zu Hause.
    M.

    Diese Karte mit ihrem griesgrämigen Inhalt wurde dem Polizeipräsidium in Kidlington zugestellt, da Morse sich nicht genau an Lewis’ Anschrift in Headington erinnern konnte. Und bis sie in Lewis’ Hände gelangte, hatte fast jeder im Gebäude sie gelesen. Es hätte Lewis — das wäre ganz natürlich gewesen — ärgerlich machen können — ein solcher Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht.
    Aber es machte ihn nicht ärgerlich. Es freute ihn.

Kapitel siebzehn

    Auszug aus einem Tagebuch
    vom Freitag,
    dem 10.Juli 1992

    Bitte, lieber Gott, laß mich aus diesem Traum erwachen! Bitte, lieber Gott, laß sie nicht tot sein! Jene Worte — die ich vor so kurzer Zeit schrieb — möge man mir diese Worte vergeben! Diese schrecklichen Worte! — mit denen ich meine Liebe zu meinem eigen Fleisch und Blut leugnete, zu meinen eigenen Kindern, zu meiner Tochter. Aber wie kann man mir vergeben? Die Parzen entscheiden anders und haben immer anders entschieden. Die Wörter mögen gelöscht werden, aber sie werden weiterbestehen. Das Papier mag im Ofen verbrannt werden, aber die Wörter werden in Ewigkeit dasein. O Finsternis! O Nacht der Seele! Öffnet das Tor der Hölle weit, teuflische Geister, denn ich bin es, der sich nähert — alle Hoffnung auf Tugend, alle Hoffnung auf Leben dahin! Ich habe das Inferno erreicht und lese jetzt über seinem Portal die schreckliche Verkündung von Verzweiflung.
    Ich bin versunken in Elend und in Pein von Geist und Seele. Ich sitze hier an meinem Schreibtisch und vergieße bittere Tränen. Ich rufe Vergib mir! Vergib mir! Und dann rufe ich wieder Vergib mir! Vergebt mir alle! Wenn ich noch an Gott glaubte, würde ich versuchen zu beten. Aber ich kann es nicht. Und selbst jetzt — selbst im Abgrund meiner Verzweiflung — habe ich nicht die Wahrheit gesagt! Jeder soll wissen, daß ich morgen wieder glücklich sein werde — einige der Stunden morgen werden mir das Glück wiederbringen. Sie kommt. Sie kommt hierher. Sie selbst hat alles arrangiert und organisiert. Es war ihr Wunsch zu kommen. Ist es mir zuliebe? Ist es meinetwegen — wegen meines Kummers? Doch solche Überlegungen sind von geringerer Bedeutung. Sie kommt — morgen wird sie kommen. Diese Frau bedeutet mir noch mehr als selbst die Mutter, die all die Qual erleidet...

    (Später) Ich bin so bedrückt, daß ich wünschte, ich wäre tot. Meine Selbstsucht, mein Selbstmitleid sind so groß, daß ich kein Mitleid für die anderen empfinden kann — die anderen, die so großen Kummer haben. Ich habe gerade wieder eines der Gedichte von Hardy gelesen. Früher konnte ich es auswendig. Doch jetzt nicht mehr, und jetzt folgt mein linker Zeigefinger den Zeilen, während ich es langsam abschreibe:

    Es scheint, ich bin ein toter Mann,
    Der darauf wartet, bald zu sinken,
    Und keiner — nicht einmal ich selbst —
    Hat je vorausgesehn
    Ich würd dran zugrunde gehn.

    Ich habe es nie wirklich geschafft, mit dir zu sprechen, meine Tochter. Ich habe es dir nie gesagt, mein Liebling, meine Tochter — und jetzt wirst du nie wissen, warum, und wirst nie verstehen.

    Ich bin zu einer Entscheidung gekommen. Dieses Tagebuch wird nicht mehr weitergeführt. Jedesmal wenn ich zurückblicke auf das, was ich geschrieben habe, sehe ich nur Sichgehenlassen, Theatralik, Gefühlsduselei. Es war nie gekünstelt oder unaufrichtig oder scheinheilig. Nein, nie! Aber jetzt ist Schluß.

Kapitel achtzehn

    Ein , würde heute jeder sagen,
    Um solche Dinge zu ertragen

    (Lord Byron, Don Juan)

    Claire Osborne bog von der A 40 nach rechts direkt in die Banbury Road ein und wußte, daß sie nur noch drei- bis vierhundert Meter zu fahren haben würde, weil sie mit der Post einen genauen Stadtplan erhalten hatte. Sie war ein wenig überrascht — ziemlich überrascht—, als sie zu ihrer Rechten das Cotswold

Weitere Kostenlose Bücher