Finstere Gründe
Aufrichtigkeit der einen Silbe den Polizeiarzt zu trösten, aber seine Gedanken stotterten jetzt über eine unterbrochene Bahn.
« Überrascht, Morse?»
«Bitte?»
«Sie waren überrascht, nicht wahr? Geben Sie es zu!»
«Überrascht?»
«Die Knochen! Nicht die Knochen einer Frau, oder?»
Morse fühlte, wie sein Herz beharrlich klopfte, irgendwo — überall in seinem Körper, fühlte, wie sein Blut von den Schultern nach unten strömte, vorbei am Herzen, vorbei an den Lenden. Nicht die Knochen einer Frau — war es das, was Max eben gesagt hatte?
Der bucklige Arzt hatte einige Zeit gebraucht, um das zu sagen, was er zu sagen hatte. Morse spürte ein Klopfen auf seiner Schulter und drehte sich um und sah Schwester Shelick hinter ihm stehen. «Bitte!» formten ihre Lippen, nachdem sie einen besorgten Blick auf die müden und immer wieder zufallenden Augen ihres Patienten geworfen hatte.
Aber bevor er ging, beugte Morse sich vor und flüsterte dem sterbenden Mann ins Ohr: «Morgen bringe ich eine Flasche Malt Whisky mit, Max, und wir werden einen winzigen Tropfen trinken, mein lieber Freund. Nehmen Sie sich also zusammen... nehmen Sie sich bitte zusammen!... Nur für mich!»
Es wäre eine Freude für Morse gewesen, das flüchtige Aufglitzern in Max’ Augen zu sehen. Aber Max hatte das Gesicht von ihm abgewandt, zur vor kurzem gestrichenen blaßgrünen Wand der Intensivstation hin. Und er schien zu schlafen.
Zwei Stunden nachdem Chief Inspector Morse ihn verlassen hatte, überließ sich Maximilian Theodore Siegfried de Bryn (seine zweiten Vornamen waren selbst für seine wenigen Freunde eine Überraschung) einer fast willkommenen Mattigkeit und verlor kurz nach drei Uhr morgens endgültig den Halt. Seine sterblichen Überreste hatte er der Medical Research Foundation des JR2 vermacht. Er hatte ernsthaft den Wunsch gehabt, dies zu tun. Und man würde Gebrauch von dem Angebot machen.
Viele hatten Max gekannt, wenn auch nur wenige seine seltsame Art verstanden hatten. Und viele verspürten eine flüchtige Trauer, als er starb. Aber er hatte (wie wir gesehen haben) nur wenige Freunde. Und es gab nur einen Mann, der still geweint hatte, als er am Sonntag, dem 19. Juli 1992, um 9 Uhr in seinem Büro im Thames Valley-Polizeipräsidium in Kidlington die Nachricht erhielt.
Kapitel dreiunddreißig
Was ist ein Komitee? Eine Gruppe von Unwilligen, ausgewählt unter den Unfähigen, um Unnötiges zu tun
(Richard Harkness, New York Herald Tribüne, 15.Juni 1960)
Sonntag ist kein guter Tag, um zu arbeiten. Oder um von anderen zu erwarten, daß sie arbeiten — oder auch nur aufgestanden sind. Doch Dr. Laura Hobson war an diesem Tag ziemlich früh aus dem Bett und erwartete Morse um 9.30 Uhr in der (verlassenen) William Dunn School of Pathology.
«Hallo.»
«Hallo.»
«Sie sind Inspector Morse?»
«Chief Inspector Morse.»
«Tut mir leid.»
«Und Sie sind Dr. Hobson, meine Liebe?»
«Das bin ich. Und ich bin nicht Ihre . Sie müssen meine Unhöflichkeit verzeihen, aber ich bin niemands oder oder < Darling> oder . Ich habe einen Namen. Bei der Arb eit ziehe ich es vor, Dr. Hobson genannt zu werden. Und wenn ich bei einem Drink meine Haare herunterlasse, habe ich auch einen Vornamen: Laura. Das war meine kleine Rede, Chief Inspector. Sie sind nicht der erste, der sie zu hören bekommt.» Aber sie lächelte, während sie sprach, und zeigt dabei kleine, sehr weiße Zähne — eine Frau Anfang dreißig, mit heller Haut, einer unproportioniert großen Brille auf der hübschen Nase — eine kleine Person, etwa 1,60 Meter. Aber ihre Stimme interessierte Morse am meisten; der nordenglische Tonfall mit den breiten Vokalen — und die vielleicht nicht unangenehme Aussicht, sich irgendwann zu einem Drink zu treffen, wenn sie die Haare heruntergelassen hatte...
Sie saßen auf zwei hohen Hockern, in einem Raum, der Morse an das verabscheute Physiklabor in seiner Schule erinnerte, und sie berichtete ihm über die einfachen, aber erstaunlichen Erkenntnisse. Der Bericht, an dem Max gearbeitet hatte, war zwar unvollständig, doch unanfechtbar: die Knochen aus dem Wytham-Wald waren die eines erwachsenen Mannes, weiß, etwa 1,67 Meter groß, schlank, kurzköpfig, helles Haar...
Aber Morses Gedanken waren schon ein ganzes Stück vorausgelaufen. Er war sich sicher gewesen, daß es sich um Karin Erikssons Knochen handelte. Okay, er hatte sich geirrt. Aber jetzt wußte er, wessen Knochen es waren
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