Finstere Gründe
— so funktioniere das. Natürlich gab es keine Garantie, und gewöhnlich mußte man sich auf sein Gefühl verlassen, aber sie hätten eigentlich selten Probleme. Wenn der neue Mieter erwartet wurde, würde ein Vertreter der Firma mitgehen, die Wohnung aufschließen, die Schlüssel übergeben und das Funktionieren von Gas, Strom, Absperrhähnen, Zentralheizung, Sicherungen, Thermostaten — von allem erklären und dem Mieter ein vollständiges Inhaltsverzeichnis der Wohnung übergeben. Dieses Verzeichnis mußte vom Mieter überprüft und innerhalb von sieben Tagen zurückgegeben werden, so daß es später keine Auseinandersetzungen über fehlende Fischmesser oder Federkissen gab. Das System funktionierte gut. Der einzige Fall merkwürdigen Verhaltens im vergangen Jahr zum Beispiel war das plötzliche Verschwinden über Nacht eines Herrn aus Südamerika gewesen, der seine Schlüssel mitgenommen hatte — und absolut nichts sonst. Und da, wie bei allen kurzfristigen Vermietungen, die ganze Miete im voraus bezahlt worden war wie auch eine Einlage von 500 Pfund, war kein Schaden entstanden — abgesehen von der Notwendigkeit, das Schloß an der Haustür auszuwechseln und neue Schlüssel anfertigen zu lassen.
«Haben Sie das der Polizei mitgeteilt, Sir?»
«Nein. Hätte ich das tun sollen?»
Morse zuckte mit den Schultern.
Er hatte jetzt eine gute Vorstellung, wie das Vermieten funktionierte (erklärte er), doch sei ihm immer wohler, wenn ihm typische Fälle geschildert würden. Wäre es zum Beispiel in Ordnung, wenn er frage, was Dr. McBryde für die Erdgeschoßwohnung in der Seckham Villa zahle?
Buckby nahm einen grünen Ordner aus dem Aktenschrank hinter ihm und durchblätterte ihn rasch. «Dreizehnhundert Pfund im Monat.»
«Puh! Ziemlich gepfeffert, oder?»
«Es ist der übliche Preis — und es ist eine hübsche Wohnung, nicht wahr? Eine der schönsten im ganzen Crescent.» Buckby nahm ein Blatt aus dem Ordner und las die Einzelangaben vor.
Aber Morse hörte ihm nur oberflächlich zu. Das war ja schließlich der Job eines Managers. Das meiste aus dem zu machen, was Morse mit eigenen Augen als eine ziemlich begrenzte Wohnfläche gesehen hatte, besonders für ein Ehepaar mit einem Kind — mindestens einem Kind.
«Haben Sie nicht eben gesagt, daß das Maximum für eine kurzfristige Vermietung 250 Pfund die Woche sei?»
Buckby grinste. «Nicht für das Haus — na ja, Sie haben es gesehen. Und was veranlaßt Sie zu der Annahme, daß es sich um eine kurzfristige Vermietung handelt, Inspector?»
Es prickelte wieder in Morses Nacken, und unterschwellig kamen ihm einige der von Buckby vorgelesenen Einzelheiten zu Bewußtsein. Er griff über den Tisch und nahm das Blatt auf.
Diele, Wohnzimmer, Eßzimmer, gutausgestattete Küche, zwei Schlafzimmer, Atelier/Arbeitszimmer, Badezimmer, überall Gas-Zentralheizung, kleiner ummauerter Garten.
Zwei Schlafzimmer... in einem von ihnen eine kranke Frau... Atelier... und ein kleines Mädchen auf einer Schaukel... lieber Gott! Morse schüttelte den Kopf über seine eigene Begriffsstutzigkeit.
«Eigentlich bin ich gekommen, um Sie zu fragen, Sir, ob Sie irgendwelche Unterlagen darüber hätten, wer im Juli vergangenen Jahres in der Wohnung gelebt hat. Aber ich glaube — ich glaube —, Sie werden mir sagen, daß es Dr. Alasdair McBryde war, daß er keine Frau hat, daß die Leute, die oben wohnen, ein kleines schwarzhaariges Mädchen haben, daß der Bursche vermutlich von Malta stammt...»
«Gibraltar, in Wirklichkeit.»
«Haben Sie Ersatzschlüssel, Sir?» fragte Morse, fast verzweifelt.
Vor der Seckham Villa stand der Jaguar unberührt, aber in der Wohnung war kein Dr. McBryde mehr zu sehen. Doch das kleine Mädchen saß noch immer auf der Schaukel und streichelte sanft das Haar seiner Puppe. Morse schloß die Terrassentür auf und ging über den Rasen zu dem Kind.
«Wie heißt du?»
«Ich heiße Lucy, und meine Puppe heißt Amanda.»
«Wohnst du hier, Lucy?»
«Ja. Mummy und Daddy wohnen da oben.» Ihre strahlenden Augen richteten sich auf das oberste Fenster.
«Hübsche Puppe», sagte Morse.
«Würden Sie sie gern halten?»
«Das würde ich sehr gern, aber im Augenblick habe ich gerade eine Menge zu tun.»
In Gedanken hörte er eine Stimme brüllen: «Hilfe, Lewis!», und er wandte sich wieder zum Haus und fragte sich, wo in aller Welt er anfangen sollte.
Kapitel sechsunddreißig
Neun Zehntel des Reizes der Pornographie sind den unsauberen Gefühlen
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