Finstere Gründe
nickte und legte das Spültuch über den Wasserhahn. «Ja, versteh ich», erwiderte sie.
22.30 Uhr.
Schon vor einer halben Stunde hatte Dr. Alan Hardinge entschieden, daß es Zeit sei, ein Taxi zu seinem Haus am Cumnor Hill zu nehmen. Aber er saß immer noch über seinem Scotch im White Horse, dem schmalen Pub, das die beiden Flügel von Blackwell’s Buchhandlung voneinander trennte. Die zweite seiner beiden Vorlesungen war kein uneingeschränkter Erfolg gewesen, und er war sich bewußt, daß sein Vorlesungsstoff zu wenig einstudiert, sein Vortrag wenig mehr als mechanisch gewesen war. Und nur ein einziges Glas Wein hatte ein mittelmäßiges Menü begleitet!
Aber trotzdem: hundert Pfund waren hundert Pfund...
Er hatte festgestellt, daß es für ihn immer schwieriger wurde, betrunken zu werden, wie sehr er es auch versuchte. Er hatte seit Monaten keine vernünftige Literatur mehr gelesen, aber in seiner Jugend war Kipling einer seiner Helden gewesen, und er erinnerte sich vage an ein paar Worte in einer der Kurzgeschichten: etwas darüber zu wissen, wie es in Wahrheit in der Hölle aussieht, . Aber Hardinge wußte, daß er zunehmend rührselig wurde, und er öffnete seine Brieftasche, um sich wieder das junge Mädchen anzusehen... er erinnerte sich an die Höllenqualen, die sie beide durchstanden hatten, er und seine Frau, als sie das erste Mal wirklich spät nach Hause kam, und dann jene schreckliche Nacht, als sie überhaupt nicht nach Hause gekommen war, und jetzt die fast unerträgliche Leere vor ihm, da sie nie mehr nach Hause kommen würde, nie mehr...
Er zog auch das Foto von Claire Osborne zwischen seinen Mitgliedskarten und seinen Kreditkarten hervor: ein kleines Paßfoto, auf dem sie grimmig an die Wand irgendeines Kiosks starrte — kein gutes Foto, aber Claire durchaus ähnlich. Er steckte es weg und leerte sein Glas; es war eigentlich absurd, nicht Schluß zu machen mit der Affäre. Aber wie konnte er anders? Er liebte die Frau, und er hatte sich in der letzten Zeit wieder mit allen Symptomen der Liebe vertraut gemacht, konnte sie auch leicht in anderen erkennen — oder besser das Fehlen der Symptome. Er wußte zum Beispiel ganz genau, daß seine Frau ihn nicht mehr liebte, ihn aber nie gehen lassen würde; wußte auch, daß Claire ihn nie geliebt hatte und ihre Beziehung morgen beenden würde, wenn es ihr paßte.
Noch eine Sache machte ihm an diesem Abend Sorgen — hatte ihm seit dem Besuch von Chief Inspector Morse zunehmend Sorgen gemacht. Er würde nicht sofort etwas unternehmen, war sich aber ziemlich sicher, daß er in Kürze genötigt sein würde, die Wahrheit über das, was vor einem Jahr geschehen war, zu enthüllen...
22.30 Uhr
Nachdem sie sich die Wettervorhersage angesehen hatte, schaltete Claire Osborne die ITN News at Ten ab — wieder eine halbe Stunde Tod, Zerstörung, Leiden und Katastrophen. Allmählich empfand sie kaum noch etwas dabei, stellte sie fest, während sie sich einen Gin und trockenen Martini mischte und eines der getippten Blätter ansah, die Morse ihr geschickt hatte:
MOZART: Requiem (K 626)
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Helmuth Rilling (Master Works)
H. von Karajan (Deutsche Grammophon)
Schmidt-Gaden (Pro Arte)
Victor de Sabata (Everest)
Karl Richter (Telefunken)
In zwei Tagen wurde sie vierzig, und sie würde sich eine Kassette oder eine Platte vom Requiem kaufen. Morse hatte gesagt, daß all seine Versionen Platten seien: «Aber bald werden sie keine Platten mehr herstellen, und einige von diesen sind ohnehin Museumsstücke.» Aber aus irgendeinem Grund wollte sie eine der Versionen kaufen, die er hatte, obwohl ihr klar war, daß es vermutlich viel vernünftiger wäre, in einen CD-Spieler zu investieren. Herbert von Karajan war der einzige Dirigent, von dem sie gehört hatte, und wirkte und klang so eindrucksvoll... Ja, sie würde versuchen, die Karajan-Version zu bekommen. Sie schaute wieder auf das Blatt und versuchte, sich die korrekte Schreibweise des schwierigen Wortes mit seiner komplizierten Buchstabenfolge , , , , zu merken.
Zehn Minuten später hatte sie ihr Glas geleert und stellte es hin. Sie fühlte sich sehr einsam. Und dachte an Morse. Und füllte ihr Glas noch einmal, diesmal mit etwas mehr Eis dazu. Plötzlich hatte sie das Gefühl, ihr Körper sei auch aus Eis.
«Allmächtiger Gott!» flüsterte sie.
4.30
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