Finstere Gründe
Sie haben den Finger — zwei Finger — genau auf die Punkte der Aussage gelegt, über die jeder sich Gedanken machen würde, selbst solche, die nur halb so intelligent wie Sie sind.»
Lewis war sich nicht sicher, ob das dem Kompliment entsprach, das Morse hatte machen wollen, aber der Meister begann gerade mit seiner eigenen Analyse:
«Sehen Sie — fragen Sie sich folgendes: Warum mußte Daley den Rucksack verstecken und dann selbst finden? Wie Sie mit Recht sagen, warum so nahe der Stelle, wo sie gerade die Leiche hatten verschwinden lassen? Was ist der Grund? Was könnte der Grund sein? Gibt es überhaupt einen Grund? Und dann, wie Sie sagen, warum war Michaels bereit, uns so zu helfen? Das ist doch idiotisch, oder etwa nicht, wenn er nicht wollte, daß die Leiche gefunden wird. Warum? Warum uns eine Chance geben, die Leiche zu finden? Warum uns nicht eine frisierte Liste mit völlig unwahrscheinlichen Stellen geben? Mein Gott! Wytham ist so groß wie...» (Morse hatte Schwierigkeiten, einen passenden Vergleich zu finden) «wie der Teich draußen in Blenheim.»
«, Sir —etwa 80 Hektar davon. Wird einige Zeit dauern, den abzusuchen.»
«Eine Menge Zeit.»
«Vergessen wir’s also?»
«Ja, vergessen wir’s. Wie ich Ihnen gestern sagte, Lewis...»
«Sie denken noch immer, daß Sie damit recht haben?»
«O ja! Ohne Zweifel. Wir brauchen uns nur zurückzulehnen und zu warten. Es werden Leute zu uns kommen, Lewis. Wir verlieren nichts. Sie können mir glauben, es wird in diesem Fall keine Opfer mehr geben... außer es handelt sich um den albernen jungen Hohlkopf Philip Daley.»
«Dann könnten wir vielleicht eine Verschnaufpause einlegen, Sir.»
«Warum nicht? Aber etwas könnten Sie auf Ihrem Nachhauseweg noch tun. Schauen Sie im Lonsdale vorbei, ja? Stellen Sie fest, wer in der letzten Nacht Dienst an der Pforte hatte, und versuchen Sie herauszufinden, ob unser Freund Hardinge Besucher in seinen Räumen hatte. Und falls ja, wie viele und wer sie waren.»
Für den Augenblick jedoch schien Lewis es mit dem Gehen nicht so eilig zu haben.
«Wollen Sie wirklich nicht, daß ich Daley und Michaels hochnehme?»
«Ich habe es Ihnen gerade gesagt. Sie werden zu uns kommen. Einer von ihnen jedenfalls, wenn ich mich nicht sehr irre.»
«Was Sie selten tun.»
«Was ich selten tue.»
«Sie wollen mir nicht sagen, welcher von ihnen?»
«Warum sollte ich es Ihnen nicht sagen wollen?»
«Also?»
«Gut. Ich wette mit Ihnen einen Fünfer gegen einen angeschlagenen Nachttopf, daß der Oberförster, der einsame Ranger oder wie er sich nennt, sich hier melden wird — persönlich oder per Telefon —, bevor Sie sich die Sechs-Uhr-Nachrichten in der Glotze ansehen.»
«Sonnabends sind die Fernsehnachrichten früher, Sir.»
«Oh, bevor Sie gehen, legen Sie diese auf Johnsons Schreibtisch, bitte. Ich glaube nicht, daß er vor Montag in seinem Büro ist, aber ich habe ihm versprochen, ihn ausführlich zu informieren.» Er reichte den dritten Satz von Fotokopien über den Tisch, und Lewis stand auf, um zu gehen.
«Soll ich Sie anrufen, wenn ich etwas herausfinde?»
«Wenn es interessant ist, ja», sagte Morse, offenbar gleichgültig.
Früher an diesem Tag hatte Lewis gedacht, er habe eine ziemlich klare Vorstellung, worum es in dem Fall eigentlich ging, oder worum es nach Morses Meinung in dem Fall ging. Aber als er jetzt das Präsidium in Kidlington verließ, war er viel verwirrter als vorher, als ob Hardinges Aussage, was immer auch ihr Zweck gewesen war, ganz gewiß seine, Lewis’, Gedankengänge durcheinandergebracht hatte, wenn auch offensichtlich nicht die seines Chief.
Wie es sich ergab, hätte Morse jede Wette verloren, denn niemand setzte sich, persönlich oder per Telefon, an diesem Nachmittag in Verbindung mit ihm. Tatsächlich tat er überhaupt nichts, nachdem Lewis gegangen war. Zu einem Zeitpunkt hätte er fast beschlossen, die letzte Aufführung des Mikado in Wytham zu besuchen. Aber er hatte keine Eintrittskarte, und es würde wahrscheinlich ausverkauft sein, und außerdem hatte er sich eine CD von Mozarts Requiem gekauft.
Cathy sah ihn am letzten Abend, zehn Minuten, bevor der Vorhang sich heben sollte: den bärtigen, kräftigen, selbstsicheren Mann, den zu heiraten sie trotz des Altersunterschiedes so gern bereit gewesen war. Er unterhielt sich sehr angeregt mit einer attraktiven Frau in der Reihe vor ihm, und zweifellos flirtete er auch ein bißchen mit ihr, in jenem trockenen,
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