Finstere Gründe
unbeschwerten, vertraulichen Ton, den er so leicht annehmen konnte. Doch Cathy empfand nicht die leiseste Ehrfurcht — sie wußte, daß sie es war, die fast alles für ihn bedeutete.
Sie ließ den Vorhang wieder fallen und ging zurück zur Damengarderobe, wo sie sich über ihre linke Schulter hinweg in dem bis zum Boden reichenden Spiegel musterte. Die einfachen, kurzen schwarzen Kleider mit ihren weißen Kragen und roten Gürteln und den an Strumpfhaltern befestigten schwarzen Strümpfen hatten sich als eine der größten Attraktionen der Vorstellung erwiesen, und alle drei vielleicht nicht mehr ganz so kleinen Mädchen genossen den leichten Kitzel von Exhibitionismus. Cathy hatte David noch nicht gefragt, ob er wirklich einverstanden war, oder vielleicht ein winziges bißchen eifersüchtig. Sie hoffte natürlich, daß er das war, aber nein, das brauchte er nicht zu sein. O nein, das brauchte er nie jemals zu sein.
Wie die meisten Aufführungen von Laiendarstellern und, nebenbei bemerkt, auch von Berufsschauspielern, war der Mikado in verschiedenen Teilen entstanden, fast ohne jede chronologische Folge, bis zur Kostümprobe. Daher kam es, daß David Michaels zwar im vergangenen Monat einer beträchtlichen Anzahl von Proben zugesehen hatte, doch eigentlich kaum wußte, was eigentlich die Handlung der Operette war. Auch die erste Aufführung hatte sein Verständnis nicht sehr gefördert, denn in Gedanken war er mit wichtigeren Dingen beschäftigt. Und jetzt, bei der letzten Vorstellung, war er mit den Gedanken noch weiter weg, während er der Handlung auf der Bühne wie durch einen halb undurchsichtigen Schleier folgte, während er dem quiekenden Orchester lauschte, als hätte er Watte in den Ohren...
Er erinnerte sich an den Telefonanruf am Abend vorher, nachdem er hinunter nach Oxford gefahren war, das Glück gehabt hatte, direkt neben Blackwell’s Buchhandlung in der Broad einen Parkplatz zu finden und dann über den Radcliffe Square und das Kopfsteinpflaster ins Lonsdale College gegangen und seinen Instruktionen gefolgt war, nämlich geradewegs an der Pförtnerloge vorbeimarschierte, wie auf höheren Befehl, und dann weiter in Hardinges Räume am ersten Innenhof, wo McBryde schon eingetroffen war und Daley innerhalb der nächsten Minuten erscheinen sollte.
Über ein Jahr war es her, seit sie zum erstenmal zusammengekommen waren — ein Jahr, in dem praktisch nichts passiert war; ein Jahr, in dem die Polizeiakten noch nicht abgeschlossen worden waren (nahm er an), doch ein Jahr, in dem er und die anderen, das Quartett, das sie bildeten, mit wachsender Erleichterung und Zuversicht davon ausgegangen waren, daß jetzt niemand mehr die Wahrheit über jenen heißen und fernen sonnigen Tag herausfinden würde oder konnte.
Es war der verdammte Brief in der Zeitung, der alles wieder aufgerührt hatte — das und dieser Morse. Was für ein Schock war es gewesen, als sie die Leiche fanden — denn er, Michaels, hatte keine Ahnung, daß sie dort gelegen hatte. Ein Glück, daß er das Messer mit dem Griff aus Hirschhorn gefunden hatte, weil das keiner mehr finden würde; es lag tief in dem See im Blenheim Park. Ja, die letzte Spur eines Beweises war jetzt ausgelöscht, und alles kam allmählich wieder in Ordnung, oder hatte begonnen, in Ordnung zu kommen... bis zu dem zweiten Anruf, früh am Morgen dieses Tages, der Anruf von diesem Ekelpaket draußen in Begbroke. Aber Daley konnte warten; Daley würde noch eine Weile bei ihnen mitspielen. Das einzige, was Michaels überhaupt nicht verstand, war Morses Warten. Und das machte ihn sehr nervös. Vielleicht warteten alle...
Plötzlich wurde er sich des Beifalls rund um ihn bewußt, und der Vorhang bewegte sich ruckweise vor die Bühne, was das Ende vom ersten Akt des Mikado anzeigte.
Kapitel dreiundfünfzig
Als wir den Torweg an der Einfahrt passierten, sagte Randolph mit verzeihlichem Stolz: «Dies ist der schönste Blick in England.»
(Lady Randolph Churchill,
bei ihrem ersten Besuch in Blenheim)
Am Montag, dem 3. August, hatte Chief Inspector Harold Johnson einen großen Teil des Vormittags mit seinen City-Kollegen in St. Aldate’s verbracht und kam erst kurz nach 11 Uhr in sein Büro im Präsidium in Kidlington zurück — wo er sofort die Übertragung von Hardinges Aussage las. Dann las er sie ein zweites Mal. Mit Ausnahme der Angaben über den Rucksack, natürlich, war ihm alles neu. Er mußte zugeben, daß sich der ganze Zuschnitt der Dinge dramatisch
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