Finstere Propheziung
Alex sah in verblüffend silbergraue Augen, in eine Iris mit einer Umrandung wie aus schwarzer Tusche. Wolfsgrau, Hexenaugen.
Überraschend verspürte Alex beißende heiße Tränen aufsteigen. Mit einem Mal war ihr schwindelig, sie sah nur noch verschwommen, ihre Augen brannten und sie klammerte sich an das Geländer ihres Sitzes.
Und dann vernahm sie einen Aufschrei, einen Laut des Erschreckens - »Nein!« Ein Wort, ein überraschter Ausruf, körperlich verletzend wie ein Schlag. Alex hatte es deutlich gehört und dennoch wusste sie, dass das Mädchen keinen Laut von sich gegeben hatte.
Und da war die Gänsehaut wieder. Und eine schmerzende Leere in ihrer Magengrube - als hätte sie plötzlich ein Gefühl erkannt, das sie unbewusst ihr Leben lang gehabt hatte. Das Gefühl hieß Einsamkeit.
Rasch wandte sich Alex von der Fremden ab und bemühte sich nach Leibeskräften, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Was geschah mit ihr? Weshalb brach ihr der kalte Schweiß aus? Warum zitterte sie? Hatte sie Angst? Und warum hatte der Blick des Mädchens bewirkt, dass sie S1ch so benommen fühlte, dass sie schwarze Flecken vor den Augen hatte, als ob sie mitten in einen Blitz geblickt hätte? »Ihr gleicht euch wie ein Ei dem anderen«, meinte Lucinda, Verwunderung in der Stimme. »Ja sicher. Und sie trägt meine Lieblingsfarbe: Kotzrosa«, hörte Alex ihre sarkastische Erwiderung, doch es war, als ob die Stimme nicht zu ihr gehörte. »Und ich würde auch nie ohne mein megacooles, ultraleichtes Handy aus dem Haus gehen, oder, Luce ? Wir sind uns wirklich total ähnlich.«
»Das seid ihr ...«, beharrte Evan. »... nicht«, bemerkte Alex.
»Komm schon«, protestierte Luce. »Du siehst es doch auch!«
»Guckt euch doch nur mal die Haare unter ihrem entzückenden Mützchen an«, murrte Alex. »Total wellig mit so rötlichen Strähnen.«
»Etwa genauso«, Lucinda grinste, »wie deine unter dieser blauen Farbe, die ich dir verpasst habe ?«
»Hast du sie gesehen? Dieses Mädchen?« Beth zerrte aufgeregt an Cams Ärmel. »Ist das nicht total abgefahren ?«
»Was denn?«, fragte Cam, die versuchte, ihren Kopf wieder klar zu kriegen. Der Blickkontakt mit dem Mädchen, von dem Beth sprach, hatte sie völlig verwirrt. Ihre Sinne, zunächst messerscharf, waren schmerzhaft träge geworden. Ihre Augen tränten. Nun konnte sie kaum noch etwas erkennen - nur Schatten. »Diese Kids, die auf uns gezeigt haben?«
»Nein, darum geht es nicht«, erklärte Beth. »Es ist dieses andere Mädchen. Die nicht auf uns gezeigt hat.« Was Cam gesehen hatte, bevor sie vorübergehend fast »erblindete«, war ein feuriges, grauäugiges Mädchen mit elektrisierend-blauen Haaren, die willkürlich mit Haarklammern an ihrem Schädel festgesteckt waren. Etwas an ihr war merkwürdig vertraut, dachte Cam. Und dann, mit einem Schaudern, dachte sie: nein! Lass dich nicht darauf ein, Mädchen, sagte sie sich. Tu so, tu einfach so, als ginge dich das nichts an.
Kapitel 8 - DIREKTE VERBINDUNG
»Siehst du es denn nicht, Cam?«, kreischte Beth. »Sie sieht total genauso aus wie du!«
»Soll das heißen, dass ich dreitausend Kilometer weit gereist bin um, sagen wir mal, meine böse Zwillingsschwester zu finden?« Cam zwang sich zu einem Lachen. Sie wagte es nicht, noch einmal zu dem Mädchen in der ausgefransten Kunstlederjacke hinzusehen. »Daraus könnte man vielleicht einen Film der Woche fürs Regional-TV machen. Besten Dank für das Kompliment, Beth.« Beth war verblüfft. »Das ist kein Witz, Camryn. Sondern eher das sonderbarste Ereignis aller Zeiten. Hast du es denn wirklich nicht bemerkt? Hast du plötzlich abgeschaltet? Wie neulich ...?«
»Beim Fußballspiel ? Musst du mich daran denn schon wieder erinnern?«
Widerwillig hielt Beth sich zurück. Cam setzte ihre Sonnenbrille auf. Und die Freundinnen verbrachten die nächsten Minuten in einer unbehaglichen Stille, die nur vom rostigen Quietschen des Riesenrades gestört wurde. Sie waren beide dankbar, als die Fahrt vorüber war, aber Cams Erleichterung sollte nicht von langer Dauer sein. Als sie und Beth aus der Gondel hüpften, sah sie die Kids, die auf sie gezeigt hatten - und wusste, dass sie auf sie warteten. Es war offensichtlich, dass der große Junge mit seinen struppigen Rastalocken und das rundliche Mädchen mit den Pipi-Langstrumpf— macht- auf— Punk- Zöpfen sie anstarrten. Nur die Blauhaarige mit den glühenden Augen schenkte ihnen keine Beachtung. Sie hatte sich über ihren
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